Die Tote von Buckingham Palace
Verhalten erschien Gracie unerklärlich.
Nachdem sie dreimal nach Mrs Sorokine gefragt hatte, wäre sie schließlich beinahe mit ihr zusammengestoßen, während sie sich in aller Ruhe mit Walton, einem der Lakaien, unterhielt. Gerade noch rechtzeitig konnte Gracie stehen bleiben, bevor man sie sehen konnte. Rasch versteckte sie sich hinter einem Vorhang. Sie kam sich töricht vor. Sicher täte sie besser daran, sich umzuziehen, bevor sie sich erkältete, denn ihr nach dem Putzen der Böden völlig durchnässtes Kleid klebte ihr am Leibe, doch keinesfalls wollte sie die günstige Gelegenheit ungenutzt vorübergehen lassen.
»Was für Porzellan?«, fragte Mrs Sorokine erregt.
Walton mochte wohl annehmen, dass die Nachricht vom Mord an der Prostituierten Mrs Sorokine durcheinandergebracht hatte. »’n Stück Porzellan e’m, Ma’am, ’n großer Teller oder so. Hat nix weiter zu bedeuten, davon gibt’s hier reichlich. Natürlich isses schlimm, wenn was zu Bruch geht, aber so was kommt immer wieder mal vor.«
»Ist es einem der Mädchen zerbrochen?«, fragte sie.
»Nehm ich an«, gab er zurück.
»Und dabei gab es einen ganzen Eimer voll Scherben?«
»In irgendwas muss man das Zeug ja wegbringen, Ma’am.«
»In einen Eimer würde ein ganzes Teeservice passen«, gab sie zu bedenken. »Wer hat es zerbrochen? Muss so jemand nicht Rede und Antwort dafür stehen?«
»Das war kein Teeservice, Ma’am, sondern einfach ’n ziemlich großer Teller. Keine Ahnung, wer’s war.«
»Und um was für einen Teller hat es sich dabei gehandelt?«
Gracie konnte Waltons Gesicht sehen. Er schien völlig verständnislos.
»Was weiß ich, Mrs Sorokine. Irgendwas Blaues mit Gold und Weiß, glaub ich.«
»Haben Sie ein solches Service?«, erkundigte sich Mrs Sorokine mit erregter Stimme.
»Ich kenn keins, aber ’s muss so was wohl ge’m, sons’ wär’s ja nich’ kaputtgegangen, oder?«
»Vielen Dank.« In Mrs Sorokines Stimme lag unüberhörbar Angst.
Als sie sich zum Gehen wandte, gelang es Gracie noch gerade rechtzeitig, sich vollständig hinter den Vorhang zurückzuziehen. Auf keinen Fall wollte sie entdeckt werden, wenn Mrs Sorokine an ihr vorüberkam. Doch das tat sie nicht, sondern eilte in die andere Richtung durch den Gang, und zwar mit so großen Schritten, dass Gracie hätte rennen müssen, um sie nicht aus den Augen zu verlieren. Damit aber hätte sie nur unnötig die Aufmerksamkeit aller auf sich gelenkt.
Mit einem Mal stand ihr Mrs Newsome gegenüber.
»Wenn Se nix zu tun ha’m, könn’ Se in die Küche geh’n und Mags helfen«, sagte sie streng. »Da wartet reichlich Abwasch. Für’s Träum’ wird hier keiner bezahlt.«
»Gewiss, Mrs Newsome.« Gracie blieb keine Wahl. Da es in der Waschküche ohnehin nichts mehr zu erfahren gab, ging sie in die Küche und tat, was man ihr aufgetragen hatte.
Um die Mittagszeit war sie völlig erschöpft. Was Samuel jetzt wohl von ihr denken würde? Sie war nicht dahintergekommen, was Mrs Sorokine entdeckt zu haben glaubte, hatte nichts in Erfahrung gebracht, was für die Lösung des Falles von Nutzen sein konnte!
Während sie ihr kaltes Hammelfleisch mit Essiggurken und Kartoffelbrei verzehrte, hielt sie den Blick auf den Teller gerichtet. Die Dinge, nach denen sich Mrs Sorokine erkundigt hatte, gingen ihr nicht aus dem Kopf. Was mochte es mit dem zerbrochenen Porzellan auf sich haben, das zu keinem der Teeservice im Palast gehörte? Mit den Eimern voll Wasser, die man treppauf, treppab getragen hatte? Warum hatte sie nach einer Beschreibung
der Prostituierten gefragt? All das waren doch lauter gewöhnliche Dinge. Glaubte sie, etwas entdeckt zu haben?
Es sah ganz danach aus. Sie hatte es am Klang ihrer Stimme hören und an der Art erkennen können, wie sie durch den Gang geeilt war. War sie auf der Suche nach etwas, womit sie die Unschuld ihres Mannes beweisen konnte?
Am Nachmittag, als Gracie, die inzwischen ein frisches Kleid und eine frische Schürze angezogen hatte, belegte Brote für den Nachmittagstee der Gäste nach oben brachte, sah sie Mrs Sorokine erneut. Diesmal stand sie in einem wunderschönen, mit Rüschen und kirschrosa Bändern verzierten Nachmittagskleid aus Seidenmusselin in der Galerie und kokettierte unübersehbar mit dem Kronprinzen. Er stand im Sonnenlicht, das durch die hohen Fenster hereinfiel, sah sie lächelnd an und schien bereitwillig jede ihrer Fragen zu beantworten. Doch dann erkannte Gracie, wie sich sein Gesicht verdüsterte und
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