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Die Tote von Buckingham Palace

Die Tote von Buckingham Palace

Titel: Die Tote von Buckingham Palace Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Geräusches im Raum bewusst. Niemand sagte etwas, nicht einmal, wenn er sich gern das Salz oder die Teekanne hätte reichen lassen.
    Gracie wusste nicht, was sie denken sollte. Adas Hass auf sie war so übermäßig groß, dass sie mit Sicherheit bald einen neuen Anlauf unternehmen würde, sie ans Messer zu liefern. Womöglich würde sie dabei auch Mr Tyndale mit bloßstellen, weil er sich so offen als Gracies Verteidiger aufgeworfen hatte. Das war ihr mit Sicherheit nicht entgangen, und sie würde sich das vermutlich zunutze machen.
    Auch Mrs Newsome würde alles tun, um ihn wie auch Gracie für diese Bloßstellung büßen zu lassen. Nie zuvor hatte Gracie einen Gedanken an diese Art von Rivalität und Intrigenwirtschaft verschwendet. Das Haus in der Keppel Street kam ihr jetzt vor wie eine Insel der Seligen, auf der man von ihr lediglich Arbeiten erwartete, die ihr vertraut waren und denen sie gewachsen war. Meist konnte sie selbstständig arbeiten, und wenn
sie Rechenschaft abzulegen hatte, dann ausschließlich Mrs Pitt, die sich nichts auf ihre Abstammung aus einer Adelsfamilie einbildete.
    Gracie fragte sich, ob auch sie einmal so glücklich sein würde wie Mrs Pitt, wenn sie Samuel heiratete. Das würde für sie eine völlig neue Situation sein, und sicherlich würde sie auf so manches verzichten müssen, was jetzt zu ihrem Alltag gehörte. Verblüfft merkte sie, dass sie nicht nur Vorfreude empfand, sondern auch ein wenig Angst und sogar Trauer.
    Sofern Pitt diesen entsetzlichen Fall nicht zu lösen vermochte, würde freilich manches anders werden, und zwar wahrscheinlich für sie alle. Durfte Gracie in dem Fall die Familie Pitt überhaupt verlassen, und sei es auch, um ihren Verlobten zu heiraten? Das sähe wie Verrat und Fahnenflucht aus. Vielleicht würde sie aus Anstand bleiben und ohne Bezahlung arbeiten müssen, einfach für Kost und Logis. Es würde ihr nichts ausmachen, denn das schien ihr nur recht und billig zu sein.
    Welcher der drei Männer mochte den Verstand so völlig verloren haben, dass er die arme Frau aufgeschlitzt hatte? Aus welchem Grund tat jemand so etwas? Gracie brachte ein gewisses Verständnis dafür auf, dass jemand einen Quälgeist tötete, von dem er fortwährend tyrannisiert oder erpresst wurde, sodass er vor Verzweiflung nicht mehr ein noch aus wusste. Aber warum sollte jemand eine Prostituierte umbringen, mit der er nie zuvor etwas zu tun gehabt hatte?
    Sofern aber jemand wirklich so völlig verrückt war – wieso konnte man ihm das dann nicht ansehen? Sie steckte den letzten Löffel Reisbrei in den Mund und lehnte das angebotene Brot mit Konfitüre dankend ab. Als alle ihr Besteck hingelegt hatten, wartete sie eine Weile, um zu sehen, wohin Mr Tyndale ging, und folgte ihm dann. Sie hoffte, dass die anderen annahmen, sie wolle sich bei ihm entschuldigen.
    Sie holte ihn in der Geschirrkammer ein. Sie stand schon im Begriff, die Tür zu schließen, als ihr einfiel, welche Spekulationen das beim vorigen Mal in Mrs Newsomes Vorstellungen ausgelöst
hatte, und so ließ sie sie halb offen stehen. Die ganze Situation war ihr ausgesprochen unangenehm, aber sie musste tun, was sie sich vorgenommen hatte, und zwar bald, bevor ihr Mut sie gänzlich verließ.
    »Mr Tyndale, Sir«, begann sie leise. »Ich bin Ihn’ sehr dankbar, dass Se sich für mich eingesetzt ha’m. Zu spät gekomm’ bin ich, weil mir Ada das Leben wirklich schwer macht. Se wollte, dass ich für sie die Abfälle wegräum. Trotzdem hätten Se das nich’ tun sollen, denn Se könn’ kei’m sagen, warum ich hier bin, und jetz’ denken sicher alle was andres, was sich nich’ gehört.« Sie holte tief Luft. »Ich muss nich’ hierblei’m, Sir, aber Sie, un’ deswegen isses egal, was die andern von mir denken.«
    Er schien betroffen. Mit einem Mal tat er ihr entsetzlich leid. Seine Arbeit und die Menschen, für die er verantwortlich war, waren sein Lebensinhalt. Es war ohne Weiteres denkbar, dass er eine Möglichkeit gefunden hatte, sich mit Dingen abzufinden, die er missbilligte: dass man nachts aus ihm sicher bekannten Gründen Frauen in den Palast brachte, dass sich Gäste dort aufhielten, die ihm nicht recht sein mochten, sei es wegen ihres Verhaltens, sei es wegen der Ziele, die sie mit ihrem Besuch verfolgten. Es gab für ihn kein Mittel zu verhindern, dass sie den Kronprinzen übervorteilten.
    Jetzt war sogar ein Mord geschehen, und immer noch musste er versuchen, dafür zu sorgen, dass alles wie am Schnürchen

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