Die Tote von Charlottenburg: Kriminalroman (German Edition)
in meinem Schrebergarten. Im November findet eine große Tagung des Reichsverbands der Kleingartenvereine in Bremen statt. Und der Kassenwart unseres Bezirksverbands hat mich als Redner vorgeschlagen, über das Thema Kompostierung. Ich habe meinen Vortrag schon fast fertig. Es wäre mir sehr unangenehm, absagen zu müssen.«
Leo konnte nicht anders, er lachte laut heraus. »Ich wusste gar nicht, dass du es auf eine zweite Karriere als Laubenpieperfunktionär abgesehen hast! Tut mir leid, wenn ich dich um deine Lorbeeren bringe, aber es bleibt dabei. Freie Tage kannst du nur nehmen, wenn wir die Sache bis dahin aufgeklärt haben.«
Walther zuckte mit den Schultern und verließ das Büro.
»Kommen Sie, Sonnenschein.«
»Danke, dass ich Sie begleiten darf, Herr Kommissar.« Der junge Mann zögerte. »Ich möchte von Ihnen lernen. Der Anfang ist nicht immer leicht.« Er wählte seine Worte mit Bedacht, als würde er sich die Sätze sorgsam zurechtlegen. »Heutzutage haben manche etwas gegen uns Juden.«
Sie gingen durch die Flure und Treppenhäuser des gewaltigen Präsidiums, allgemein nur »rote Burg« genannt, bis sieden Lichthof erreichten, in dem die Dienstwagen geparkt waren. Als sie auf die Alexanderstraße rollten, sagte Leo: »Für mich gibt es nur fähige und unfähige Polizisten, Sonnenschein. Ob Sie in die Kirche oder in die Synagoge oder nirgendwohin gehen, interessiert mich nicht.« Es klang schroffer als beabsichtigt, doch der junge Kollege lächelte bei sich.
»Wir fahren jetzt zu den engsten Verwandten der Verstorbenen – dem Neffen, der uns auf den Fall aufmerksam gemacht hat, und seiner Mutter, der Schwester der Toten. Sie ist verwitwet.«
Sonnenschein nickte. »Gewiss, die Familie ist wichtig. Aber …«
»Ja?«
»Henriette Strauss hat sicher viele Ärzte gekannt. Und die haben Erfahrung mit Giften und deren Wirkungsweise.«
»Da haben Sie recht. Aber eins nach dem anderen.«
Von Osten nach Westen durch die Stadt zu fahren, bedeutete nicht nur eine geographische, sondern auch eine soziale Reise: Vom besonders dicht besiedelten Osten mit seinen überfüllten Mietskasernen und den deutlichen Spuren, die Jahre des Hungers und der Inflation hinterlassen hatten, gelangten die beiden Beamten jetzt in den wohlhabenden Westen, in dem die Menschen scheinbar unberührt von den Wirren der vergangenen Jahre lebten. Natürlich wusste jeder Polizist, dass auch hinter eleganten Fassaden das Elend hauste, dass in herrschaftlichen und bürgerlichen Wohnungen private Bordelle und Spielsalons betrieben wurden. Für Leo war Berlin ein Kosmos, der eine nie endende Faszination ausübte.
Er steuerte den Wagen in Richtung Lichterfelde, wo Familie Lehnhardt in der Baseler Straße residierte. Den Ausdruck hielt Leo für durchaus angemessen, denn die Gegend war berühmt für ihre herrlichen baumbestandenen Straßen und die prachtvollen Villen mit ihren Säulen, Türmchen,Loggien und verwunschenen Gärten. Er hatte herausgefunden, dass Gustav Lehnhardt eine gut gehende Fabrik besessen hatte und zwei Jahre zuvor verstorben war. Er war gespannt, wie Rosa Lehnhardt auf ihren Besuch reagieren würde. Hatte der Sohn ihr überhaupt von seinem Verdacht berichtet?
Leo parkte vor dem Haus, einem roten Ziegelbau mit weißen Fassadenelementen, der von wunderschönen alten Bäumen eingerahmt wurde. Es erinnerte ihn an Bilder von englischen Landsitzen, die er in Illustrierten gesehen hatte. Am kräftigen Ast einer Linde hing eine Schaukel, die leise im Wind hin- und herschwang. Die beiden Kriminalbeamten gingen über den kiesbestreuten Weg zur Haustür und klingelten.
Ein schwarz gekleidetes Hausmädchen mit weißer Schürze öffnete die Tür. Leo nannte seinen Namen. »Wir sind angemeldet.«
»Kommen Sie bitte mit.«
Die Eingangshalle war mit schwarz-weißen Fliesen ausgelegt, blank gewienert, dass man sich fast in ihnen spiegeln konnte. Das Mädchen führte die Männer zu einer Tür mit einem schönen Buntglasfenster, klopfte und kündigte die Besucher an.
Leos Blick fiel auf die Frau, die zusammengesunken auf dem Sofa saß. Sie hielt den Kopf gesenkt, sodass er nur ihre braunen Haare sehen konnte, und er fühlte sich an die Leiche auf dem kalten, stählernen Untersuchungstisch erinnert. Frau Lehnhardts Haar war etwas dunkler, die Ähnlichkeit aber unverkennbar. Er verdrängte die Erinnerung an die Sektion und stellte sich und Sonnenschein vor.
Adrian Lehnhardt, der hinter seiner Mutter stand, als wollte er ihr im
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