Die Tote von Charlottenburg: Kriminalroman (German Edition)
und Adrian Lehnhardt ins Bahnhofsgebäude gebracht. Auf dem Bahnsteig hatte sich eine beträchtliche Menschenmenge versammelt, doch die Polizisten schirmten die beiden vor neugierigen Blicken ab. Leo hatte den Kollegen kurz erklärt, dass es sich um einen Suizidversuch gehandelt und er den Mann auf den Schienen gestellt habe, bevor dieser sich vor den Schnellzug habe werfen können.
Er warf einen Blick auf Lehnhardt, den man auf eine Bankgebettet hatte. Er zitterte, obwohl es im Raum warm war, und hatte das Gesicht zur Wand gedreht. Gleich würde ein Arzt kommen, ein Transport ins Krankenhaus schien geboten.
Auch Leo stand noch unter dem Schock der Ereignisse. Eine Kurzschlussreaktion, gewiss, aber nicht unverständlich.
Es war so knapp gewesen. Bevor er das Haus der Lehnhardts verlassen hatte, hatte Leo kurz erwogen, erst noch im Präsidium telefonisch Verstärkung anzufordern. Dann wäre der junge Mann jetzt nicht mehr am Leben. Leo versuchte, sich das Gespräch mit Mutter und Sohn ins Gedächtnis zu rufen.
Wie konntest du nur? Davos – natürlich.
Adrians Geburtsort war nie ein Geheimnis gewesen, wohl aber die Tatsache, dass Henriette Strauss nicht seine Tante, sondern seine Mutter gewesen war. Und dass ein Sanatorium einer wohlhabenden Patientin zuliebe falsche Eltern in eine Geburtsurkunde eingetragen hatte. Das allein war schon ein Schock, doch Leo wusste: Adrian hatte noch mehr entdeckt.
Ich habe die Doktorarbeit in deinem Schrank gefunden! Und auf dem alten Chemiekasten war kaum Staub
! Der erste Satz war rätselhaft und bedurfte der Aufklärung. Beim zweiten hatte Leo eine Ahnung – wenn Rosa Lehnhardt den Mord oder die Morde begangen hatte, musste sie über eine grundlegende chemische Ausstattung verfügt haben. Vermutlich hatte ihr Sohn die Utensilien gefunden.
Du bist es gewesen! Der Spiegel ist auch weg!
Lehnhardt hatte es in seiner Aufregung zugegeben: Er hatte gelogen, er hatte gewusst, dass der Spiegel im Besitz seiner Mutter war. Womöglich hatte er geahnt, dass seine Mutter die Samenkörner darauf verwendet hatte, um ihre Schwester zu töten.
Leo stand auf und trat rasch zu dem jungen Mann. Ganz sanft berührte er seine Schulter. »Herr Lehnhardt.«
Er rührte sich nicht.
»Bitte, Sie müssen mir etwas erklären. Es ist dringend.«
Leo war auf dem schnellsten Weg zum Haus der Familie Lehnhardt gefahren. Das Hausmädchen öffnete ihm mit bleichem Gesicht. Aus dem Salon drangen Stimmen.
»Dann kam mir eine Idee, die auf den ersten Blick bizarr schien, aber sie ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Also habe ich zuerst mit Gustav darüber gesprochen. Er war außer sich, doch ich bin beharrlich geblieben. Er … er wollte nicht wahrhaben, dass der Grund für unsere Kinderlosigkeit bei ihm liegen könnte, und wünschte keine ärztliche Untersuchung. Andererseits wollte er einen Erben für die Firma.« Sie hielt inne. »Schließlich war er einverstanden.«
»Nur damit ich Sie richtig verstehe, Frau Lehnhardt«, warf Robert Walther ein. »Sie und Ihr Mann haben tatsächlich beschlossen, Henriettes Kind als Ihr eigenes auszugeben?«
»Es war eine wunderbare Lösung für alle«, sagte sie, als wäre dies ganz selbstverständlich. »Henriette behielt ihre Unabhängigkeit und konnte ihr Studium weiterverfolgen, ich hatte ein Kind und mein Mann einen Erben für die Firma.«
Leo trat in den Salon. »Sprechen Sie weiter«, sagte er und setzte sich in eine Ecke.
Rosa Lehnhardt beachtete ihn gar nicht, sie schien ganz in ihrer Welt gefangen.
»Henriette war zuerst skeptisch, weil sie bezweifelte, dass wir es überzeugend genug inszenieren könnten, doch ihre Angst vor einer Zukunft als ledige Mutter war stärker. Also haben wir verbreitet, ich sei guter Hoffnung, hätte aber gesundheitliche Probleme und müsse einen längeren Kuraufenthalt in der Schweiz antreten. Meine Schwester werde mich begleiten. Niemand hat etwas gemerkt. Wir blieben im Sanatorium sehr für uns. Außerdem polsterte ich mein Kleid so aus, dass es glaubhaft wirkte.« Sie errötete leicht. »Bei meiner Schwester wurde es mit der Zeit schwieriger, aberdort kannte uns niemand. Wir hatten ein Sanatorium gewählt, das nicht von der Berliner Gesellschaft frequentiert wurde.«
Plötzlich änderte sich ihr Tonfall, verlor seine Sachlichkeit und wurde ganz weich. »Als ich Adrian zum ersten Mal im Arm hielt, war es, als hätte er schon immer mir gehört, als hätte ich ihn in mir getragen. Er ist mein Sohn, das war er vom
Weitere Kostenlose Bücher