Die Tote von Harvard
Phantasie und schloß nur, daß Janet hier offenbar viel Zeit verbracht hatte.
Als Kate zum Warren-Haus zurückkehrte, wartete Clarkville dort auf sie, wo sie ihn verlassen hatte. »Ich habe ein Buch aus Janets Büro mitgenommen«, sagte Kate. »Glauben Sie, irgend jemand hätte etwas dagegen? Ich habe schon eins von ihren Büchern erstanden, aus ihrem Erbe, auch ein Paperback, und bin bereit, noch eins zu kaufen. Ich würde es gern lesen, um zu sehen, was Janet an Eleanor Marx interessierte.«
»Bitte, nehmen Sie es«, sagte Clarkville. »Ich weiß nicht viel ü-
ber Eleanor Marx, nur daß sie ›Madame Bovary‹ übersetzt hat. Diese Übersetzung benutzen die meisten meiner Studenten heute noch. Ich wäre allerdings nie auf die Idee gekommen, daß Janet sich für Eleanor Marx interessieren könnte. Wie wenig wir doch voneinander wissen.«
»Da Sie gerade davon sprechen – wie gut kennen Sie Howard Falkland?« fragte Kate. »Ist er ein Lieblingsstudent von Ihnen?«
»Wie meinen Sie das?« fragte Clarkville schroff.
»Ich meine«, sagte Kate und ihre Blicke begegneten sich, »würde er jemandem, der nicht viel Alkohol verträgt, hochprozentigen Wodka in einen Drink tun, nur weil Sie ihm zu verstehen gegeben haben, daß Sie das für eine gute Idee hielten?«
Clarkville starrte Kate mindestens eine Minute an. Dann knipste er die Lichter aus und geleitete sie zur Eingangstür hinaus auf die Treppe.
»Howard Falkland«, sagte Clarkville, als sie die Stufen hinab-stiegen, »ist ein Narr.«
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Zwölf
… daß es ihr seither leichter fiel, das Gefühl zu unterdrücken, als die Folgen auf sich zu nehmen, falls sie ihren Gefühlen freien Lauf ließ.
George Eliot ›Middlemarch‹
Am nächsten Tag verkroch sich Kate in ihr Arbeitszimmer. Sie las, dachte nach und wanderte in dem kleinen Raum auf und ab.
Gegen Mittag machte sie einen Spaziergang durch Cambridge. Aber jetzt, da der Winter zu Ende ging, waren so viele Menschen unterwegs, daß man sich selbst im Gänsemarsch kaum die Brattle Street hochkämpfen konnte. Kate gab auf und kehrte zu ihren Büchern zurück: ein Roman, zwei Biographien und der Gedichtband von Herbert aus Janets Appartement. Sie hatte Bill einen Scheck für Band II der Biographie von Eleanor Marx geschickt. Wie es aussah, hatten die Verwandten keinen Gedanken an Janets Büro verschwen-det, aber in Geldangelegenheiten war Kate sehr genau, um nicht zu sagen heikel: Sie konnte jemandem eine große Summe leihen und wissen, daß sie sie nie wiedersehen würde, aber sie mochte nicht auch nur den kleinsten Betrag schuldig bleiben. Sie wußte, genau das gehörte zu den Dingen, die sie in den Augen der Frauen im Café in der Hampshire Street so bieder erscheinen ließ.
Herberts Gedicht ›Liebe‹ konnte Kate inzwischen auswendig. Sie hatte auch alle anderen Gedichte Herberts, die in dem Band zusammengestellt waren, gelesen. Sie hoffte, ein anderes Gedicht zu finden, das Janet ebenso beschäftigt hatte. Aber wie es schien, war nur das ›Liebe‹ – Gedicht wieder und wieder gelesen worden. Während Kate die Seiten wohl zum zwanzigsten Mal durchblätterte, fiel ihr Blick plötzlich auf etwas, das sie viele Male zuvor übersehen hatte: eine kleine Anmerkung in Janets ordentlicher Handschrift. Auf Seite VIII des Inhaltsverzeichnisses, unter dem letzten Gedicht von Herbert, hatte Janet einen anderen Titel hinzugefügt: ›Hoffnung‹. Natürlich stand keine Seitenzahl daneben, weil das Gedicht ja nicht in der Auswahl dieses Bandes enthalten war. Kate war der Zusatz bisher entgangen, da Janet ihn in so sauberen Buchstaben geschrieben hatte, daß er sich von dem Gedruckten kaum abhob. Wieder verließ Kate ihr Arbeitszimmer, überquerte den Radcliffe Campus und rannte förmlich die Garden Street hinauf zur Hilles Bibliothek in der Shepherd Street. Kate mochte diese Bibliothek, die, außer zu Exa-144
menszeiten, kaum frequentiert war. Hier war nichts von dem Eifer der Erstsemester zu spüren, der die Lamont Bibliothek auf dem Harvard Campus erfüllte, wo sich die Studienanfänger tummelten. Kate kannte sich inzwischen gut aus in der Hilles.
Sie lief die moderne Holztreppe hinauf zur Etage, die die englische Literatur beherbergte, und machte sich auf die Suche nach jeder verfügbaren Sammlung mit Gedichten Herberts, alt oder neu. Es gab viele, und Kate brauchte nicht lange, bis sie entdeckte, daß Herbert in der Tat ein Gedicht mit dem Titel ›Hoffnung‹ geschrieben hatte und daß es kurz
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