Die Tote von Harvard
Ansichten – Verzeihung, so etwas wie ziemlich extrem gibt es natürlich nicht, ich fürchte, die Anspannung der letzten Zeit macht sich bemerkbar –, und Taktgefühl ist seine Sache nicht. Was er sagte, war aber nicht nur taktlos. Es stimmte auch nicht. Schließlich waren wir alle mit der Entscheidung des Berufungskomitees einverstanden gewesen, eine Frau herzuholen, von der wir in punkto Feminismus nichts zu befürchten hatten. Rückblickend würde ich sagen, das war vielleicht ein Fehler. Während wir anderen unsere Einwände vor-brachten, fing Janet zu weinen an. Ganz leise. Jeder sah, daß sie nicht dagegen an konnte, aber alles darum gegeben hätte, nicht zu weinen. Frauen sind sich bewußt, daß Männer nicht in aller Öffentlichkeit in Tränen ausbrechen. Ich fürchte, das Ganze war ziemlich…«
»Peinlich«, half Kate ihm aus.
»Ja, es war peinlich. Keiner wußte recht, wie er sich verhalten sollte. Alle schienen nur darauf zu warten, daß sie aufstand und den Raum verließ. Aber das tat sie nicht. Sie saß einfach da, und die Tränen liefen ihr übers Gesicht. Schließlich schlug der Diskussions-leiter vor, die Sitzung zu vertagen, und alle standen auf, ziemlich hastig, fürchte ich. Während dann einer nach dem andern ging, saß 139
sie immer noch da. Ich überlegte, zu ihr zu gehen, ihr irgend etwas Freundliches zu sagen, aber man konnte nicht wissen, ob es ihr recht gewesen wäre. Und das«, schloß Clarkville, »war das letzte Mal, daß wir alle sie lebend sahen. Außer natürlich ihrem Mörder, muß man wohl traurigerweise hinzufügen.«
»Der Polizei haben Sie natürlich kein Wort davon erzählt.«
»Die Polizei war äußerst zurückhaltend in ihren Fragen an uns.
Na, und wir dachten, Reden ist Silber – Schweigen ist Gold, wie meine gute Mutter zu sagen pflegte. Falls es Ihnen ein kleiner Trost ist: Wir wissen alle, daß wir uns schlecht benommen haben – sehr schlecht sogar. Aber schließlich sind wir es nicht gewohnt, Frauen im Kollegium zu haben. Außerdem wirkte Janet so stark, keiner hätte damit gerechnet, daß sie mitten in einer Sitzung in Tränen aus-bricht.«
Sie saßen eine Weile schweigend da. Dann sprach Kate: »Professor Clarkville, ich glaube Ihnen ohne weiteres, daß Sie Janet an jenem Nachmittag zum letzten Mal lebend gesehen haben, aber ich bin davon überzeugt, es war nicht das letzte Mal, daß Sie sie überhaupt sahen – ich meine abgesehen von dem Moment, wo Sie ihre Leiche in der Männertoilette fanden.«
»Was wollen Sie damit sagen?« sagte Clarkville.
»Damit will ich sagen, daß Sie am fraglichen Morgen ins Büro des Vorsitzenden gingen und Janet dort fanden. Das wissen auch die Sekretärinnen.« Langes Schweigen folgte.
»Wie sind Sie darauf gekommen?« fragte Clarkville schließlich.
»Zuerst habe ich nachgedacht und dann geraten. Die Männertoilette erschien mir nie logisch, obwohl dieser Ort ein so sinniger Hinweis darauf war, daß in Harvard für Frauen kein Platz ist. Aber wir wissen, daß sie nach dem Tod transportiert wurde, um genau zu sein: nachdem die Leichenstarre schon begonnen hatte oder in vollem Vollzug war – falls das der richtige Ausdruck ist. Die Leichenstarre tritt kurz nach dem Tod ein und vergeht nach vierundzwanzig Stunden. Soviel habe ich inzwischen gelernt. Warum hätte jemand die Leiche in die Männertoilette schaffen sollen? Nun, wenn man sich’s genau überlegt, war es fast naheliegend. Jeder weiß, daß der Tod durch Zyankali qualvoll und von Krämpfen begleitet ist. Ich vermutete, daß die Leiche die Beine angezogen hatte, sozusagen in Sitzhaltung war, und da kamen Sie auf die Idee, sie einfach auf die Toilette zu setzen. Denn sie im Büro des Vorsitzenden zu lassen, hätte den erlauchten Herrn in ein schiefes Licht gebracht. – Natürlich 140
werden Sie sich fragen, warum ich so sicher bin, daß Sie es waren, der sie in dem Büro fand. Auch da habe ich geraten. Die einfachste Erklärung ist oft die richtige. Sie fanden sie, sie schafften sie fort, und dann ›entdeckten‹ Sie die Leiche. Warum aber Janet im Büro des Vorsitzenden starb, dazu fällt mir keine Erklärung ein. Ich gehe davon aus, daß Sie sie nicht getötet haben. Warum ich davon ausgehe? Weil Sie ein hochintelligenter Mann sind – Sie hätten sie weder in dem Büro noch sonstwo umgebracht. Aber Sie waren verstört, nachdem Sie die Leiche fortgeschafft hatten. Und deshalb riefen Sie nicht nur die Polizei an, sondern auch mich, um Ihre Geschichte an
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