Die Tote Von Higher Barton: Ein Cornwall-Krimi
Mabel sah, dass in Abigails Räumen noch Licht brannte, ebenso in einem Zimmer im Erdgeschoss. Plötzlich sah sie einen Schatten, der sich ihr von links näherte und direkt auf sie zukam. Mabels Herz tat einen Sprung. Schnell verbarg sie sich im Gebüsch. Die Gestalt kam langsam näher, und Mabel konnte das Klacken der Absätze auf dem Asphalt hören. Offenbar handelte es sich um eine Frau. Abigail konnte es nicht sein, denn sie war größer als die Fremde, und Emma Penrose war in der Regel nachts nicht im Herrenhaus. Die Frau passierte die Stelle, wo Mabel sich im Gebüsch verborgen hielt, und Mabel befürchtete, sie könne ihr Atmen hören. Vorsorglich presste sie eine Hand auf ihren Mund. Im schwachen Licht des Halbmonds konnte sie das Gesicht der nächtlichen Besucherin nicht erkennen, sah nur, dass sie lange, dunkle Haare hatte, ihre Figur schlank und sportlich war, und ihre Bewegungen ließen darauf schließen,dass sie noch recht jung war. Was hatte die Frau so spät auf Higher Barton zu suchen? Dazu noch zu Fuß? Sie war auch nicht aus dem Herrenhaus gekommen, sondern von links. Von dort, wo sich die Garagen befanden. Als hätte jemand Mabel den Schleier vom Gesicht gezogen, erkannte sie plötzlich den Zusammenhang: Die Fremde war die Geliebte von Justin Parker! Offenbar kam sie von einem Stelldichein mit dem Chauffeur und hatte ihren Wagen irgendwo außerhalb des Anwesens geparkt. Mabel sah der Gestalt nach, bis die Dunkelheit sie verschluckte, und ballte die Hände zu Fäusten. Sie verspürte große Lust, unverzüglich zu Abigail zu gehen und ihrer Cousine von Justins Betrug zu erzählen. Unter anderen Umständen hätte Mabel es auch getan, jetzt jedoch konnte sie Abigail nicht mehr vertrauen. Zu schwer wogen das Motiv und die Indizien, Abigail könnte dafür gesorgt haben, dass Arthurs Affäre und sein uneheliches Kind nicht an Tageslicht kamen und sie ihr Vermögen nicht mit jemandem teilen musste.
In dieser Nacht tat Mabel kein Auge zu. Nachdem sie sich stundenlang ruhelos von einer Seite auf die andere gewälzt hatte, stand sie auf, zog den Morgenmantel über und verließ ihr Zimmer. Sie wollte sich in der Küche eine warme Milch mit Honig machen, das hatte bisher immer gewirkt, wenn sie nicht einschlafen konnte. Als Mabel die Halle betrat, schlug die Standuhr die zweite Morgenstunde, und zu Mabels Erstaunen schimmerte unter der Küchentür ein Streifen Licht hervor. Offenbar fand in dieser Nacht noch jemand keine Ruhe. Bemüht, kein Geräusch zu machen, schlich sie näher, legte ein Ohr an die Tür und hörte jemanden schluchzten. Obwohl es nicht Mabels Art war, bückte sie sich und spähte durch das Schlüsselloch.Ihr Blick erfasste jedoch nur einen Teil des Tisches. Mabel holte tief Luft und stieß die Tür auf.
„Abigail!“ Eigentlich war sie nicht erstaunt, ihre Cousine vorzufinden. Abigail, in einen bunt bedruckten seidenen Morgenmantel gehüllt, saß am Küchentisch, vor sich eine Tasse Milch.
„Ich konnte nicht schlafen.“ Mit einer raschen Bewegung wischte sich Abigails übers Gesicht, die Spuren ihres Weinens ließen sich jedoch nicht verbergen.
„Ich auch nicht“, sagte Mabel leise und deutete auf die Tasse. „Offenbar haben wir immer noch den gleichen Geschmack, ich wollte mir auch eine warme Milch mit Honig machen.“
Während Mabel sich eine Tasse einschenkte und sie in die Mikrowelle zum Erwärmen stellte, fragte Abigail: „Wie war die Probe?“
Über die Schulter warf Mabel ihr einen Blick zu. Es war offensichtlich, dass Abigail nicht darüber sprechen wollte, warum sie geweint hatte, daher sagte sie: „Recht gut, wenn man bedenkt, dass zwei Rollen innerhalb kürzester Zeit neu besetzt werden mussten.“
Abigail seufzte, ihre Hände umklammerten die Tasse.
„Michaels Unfall war kein Unfall.“
„Was?“ Mabel, die gerade die Tasse aus der Mikrowelle genommen hatte, fuhr so heftig herum, dass ein Teil der Milch überschwappte und auf den Boden tropfte. „Woher weißt du das?“
„Clara Hampton, Michaels Mutter, rief heute Abend an. Die Frau war völlig aufgelöst. Zuerst dachte ich, ihr Sohn wäre … also, er hätte es nicht geschafft, aber dann sagte Clara, die Polizei hätte ihnen mitgeteilt, jemand habe versucht, Michael zu töten.“
Mabels Blut schoss in rasender Geschwindigkeit durch ihre Adern, äußerlich wirkte sie jedoch völlig ruhig, als siesich setzte und interessiert fragte: „Hat sie auch gesagt, wie es passiert ist?“
Abigail nickte. „Man hat
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