Die Tote von San Miguel
aufgabeln lassen. Ich gehöre also Ihnen ganz allein, Inspector. Vom Scheitel bis zur Sohle.«
ich habe im vorgarten als warnung an sie einen schweinekopf auf einer holzstange aufgespießt. haltet euch von mir fern, soll das heißen. die gefleckte schnauze ist blutverschmiert. blaue schmeißfliegen krabbeln in die nasenlöcher hinein und über die toten augen. sie fahren ihre saugrüssel mit ruckartigen bewegungen aus und ziehen sie genauso ruckartig wieder ein, während sie sich an dem verrottenden fleisch laben.
das war mein traum.
als ein flüchtiger lichtstrahl meine augen streift und ich erwache, sind sie immer noch hier.
sie sind kein bloßer traum.
während ich in den verschwitzten laken liege, höre ich sie gleich um die ecke im flur und auf dem ziegeldach über meinem schlafzimmerfenster flüstern. ihre worte sind unverständlich. sie bewegen sich wie schatten am rande meines blickfeldes.
das metallisch helle schaben einer messerklinge, die über einen eingeölten wetzstein gezogen wird, lässt mir die nackenhaare zu berge stehen.
ich gehe ins badezimmer und würge den schrei hinunter, der aus meiner kehle hervorquellen will. der säuerliche geschmack von erbrochenem brennt mir im mund. auf dem spiegel ist eine kinderzeichnung von einer ziege mit aufgeschlitzter kehle, aus der blutfontänen spudeln. mit dem gleichen roten lippenstift haben sie unter die zeichnung das wort opfer gekritzelt.
ich hocke auf dem rand der badewanne, die auf füßen steht. mein blick ist von den abständen zwischen den hexagonalen bodenkacheln gefesselt, gänzlich auf sie fixiert. meine beine wollen nicht aufhören zu zittern. als gehörten sie nicht mir, sondern jemand anderem.
ein unschuldiges silberfischchen flitzt über die kacheln. ich zerquetsche es mit meiner ferse. dann schnappe ich mir ein handtuch und wische die botschaft auf dem spiegel fort – und den silberfischchenbrei von meiner ferse.
ich brüte den ganzen tag über ihrer botschaft. sie verlässt das haus, weil meine laune unerträglich ist.
zur abenddämmerung, als ich den grill anzünde, um das essen zuzubereiten, verbrenne ich heimlich das handtuch mit den verräterischen lippenstiftspuren. später werden wir auf eine geburtstagsparty gehen.
ein dichter nebel wallt herein und überflutet die stadt. während ich zusehe, wie die kondensierte feuchtigkeit von der kante eines blechdachs tropft, stelle ich mir ein blindes augenpaar vor, das über die flachen pflastersteine im hof geworfen wird.
in meiner vision sehe ich, wie die besitzer der stimmen aus den dunklen winkeln hervorwuseln und sich um diese leeren gaben streiten.
Kapitel 12
Jeder Barkeeper in San Miguel hatte seine eigene Version einer perfekten Margarita, eine mystische Kombination aus frisch gepresstem Limettensaft, Cointreau und genug dreifach destilliertem Tequila aus blauen Agaven, um jeden Liebhaber dieses Cocktails aus den Socken zu hauen. Der Kellner mit dem Babygesicht aus dem El Restaurante Y Bar Locuelo stellte zwei dieser Kreationen auf dem Glastisch zwischen Diaz und Consuela ab. Die eine con sal , die andere sin .
Diaz hielt einen halben Limettenschnitz über das Glas. Als er die Finger in das saftige Fruchtfleisch grub, fiel ein Rinnsal milchiger Tröpfchen in seine Margarita. Sein Blick blieb die ganze Zeit unbeirrbar auf Consuelas Gesicht gerichtet.
Sie waren allein. Leo Bremmer, Consuelas Liebhaber, Kollege, Geschäftspartner, Zuhälter oder was auch immer, war von ihnen auf den Rücksitz eines Taxis verfrachtet und zurück zu seinem Hotel geschickt worden. Sie hatten den Fahrer im Voraus für seine Dienste bezahlt.
Consuela erwiderte Diaz’ Blick etliche ungezählte Sekunden lang. Dann trank sie die Hälfte ihres Drinks in einem Zug aus und leckte sich den Limettensaft von den Lippen.
Am anderen Ende der Bar saß ein verloren wirkender korpulenter Mann halb über den Tresen gebeugt und sah dem Barkeeper bei der Arbeit zu. Außer ihm gab es keine weiteren Gäste. Aus den Lautsprechern drang die Hintergrundmusik irgendeiner Avantgarde-Jazzcombo. Irgendwo plätscherte ein Springbrunnen.
»Ich rauche zwar eigentlich nicht, aber hätten Sie vielleicht trotzdem eine Zigarette für mich?«, fragte Consuela.
Diaz zündete zwei Zigaretten an und reichte ihr eine. Sie zog nur einmal daran und drückte sie gleich wieder im Aschenbecher aus, wo ihre Überreste wie ein schwelender Autoreifen während eines Aufruhrs vor sich hin qualmten. Als der Kellner mit dem Babygesicht
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