Die Tote von San Miguel
Gestern Abend haben sicheine Menge Leute, die ich nicht kenne, in meinem Haus rumgetrieben und meinen Schnaps gesoffen.«
»Haben all diese Schnorrer Sie nicht wütend gemacht?«
»Eigentlich nicht. Ich schmeiße eine Menge Partys, Inspector. Ich mag Partys.« Dillinger machte eine unbestimmte Geste, die die Menschenmenge umfasste. »Offenbar tauchen dabei jedes Mal etliche Leute auf, die nicht eingeladen sind.«
»Ich habe immer geglaubt, alle Maler wären arm.«
»Entschuldige«, mischte sich Julia in das Gespräch ein. »Ich habe ganz vergessen, Inspector Diaz zu sagen, dass die Galería Rana dir gehört.«
»Als Maler bin ich ein absoluter Dilettant. Eigentlich bin ich Geschäftsmann. Ich bin vor acht Jahren mit etwas Geld in der Tasche nach San Miguel gekommen und habe es sehr gut investiert. Die Galerie ist nur eine Art Hobby.«
»Ah.« Diaz hob und senkte die Augenbrauen in seiner besten Imitation einer großen schlanken Latino-Version von Hercule Poirot.
»Und fragen Sie mich jetzt bitte nicht, ob ich alle Leute kenne, die Amanda möglicherweise etwas hätten antun wollen. Alle haben sie geliebt. Jeder wollte mit ihr ins Bett. Besonders die Frauen. Aber das war ein Vergnügen, das sie nur sehr wenigen gewährt hat. Also, falls Sie nicht weitere Fragen an mich haben, da sind noch einige andere Leute, mit denen ich sprechen müsste.«
Bevor Diaz antworten konnte, schoss Dillinger auch schon durch den Raum. In seinem Kielwasser tauchte eine pferdegesichtige Frau in einem melodramatisch geschnittenen Kleid aus schwarzer Seidenspitze auf. Er legte ihr einen Arm um die Taille und wirbelte sie herum. Sie stieß ein schrilles Kichern aus, als er ihren Hals küsste.
Diaz musterte Julia fragend. »Und, glauben Sie, dass Ihr Boss fähig wäre, irgendjemanden umzubringen?«
»Ganz unter uns?«
»Natürlich. Ich könnte eine schöne Frau niemals in eine missliche Situation bringen.«
»In diesem Fall lautet die Antwort ja.« Sie ergriff Diaz’ Arm. »Aber wären wir nicht alle unter bestimmten Umständen fähig, einen Mord zu begehen?«
Sie stiegen die Stufen zur Balkongalerie hinauf, wo ein pummeliger Mann mit einem Ziegenbart Hof hielt. Eine weinfarbene Krawatte ragte wie eine exotische Blume unter seinem Kinnbart hervor. Die breiten roten Streifen auf seinem Hemd verliehen der Fülligkeit der mittleren Jahre eine amüsante Note. Er ergriff Diaz’ Hand, als wäre sie ein Blatt, das vom Himmel herabgeschwebt war. Seine Fingernägel waren perfekt gefeilt und poliert, seine kleinen Hände rosa und weich. Profesor Montalban sprach mit einem kastilischen Lispeln.
»Welch eine Freude, Sie kennenzulernen, Inspector Diaz. Könnten Sie sich vielleicht vorstellen, irgendwann einmal für mich Modell zu sitzen? Es wäre mir eine Ehre, einen authentischen Kriminalpolizisten zu malen. Gefällt Ihnen meine Arbeit?«
Sie drehten sich gemeinsam zu einigen der im Stil noir gehaltenen Bilder an der Wand hinter ihnen um. Dunkle Gassen und unterschwellige Gewalt, pralle Brüste und leichtbekleidete Frauen, Pistolen und Zigaretten. Letztere erweckten in Diaz das plötzliche Bedürfnis zu rauchen. Er schob sich eine Montana zwischen die Lippen und zündete sie mit seinem Feuerzeug an.
»Ich verehre das italienische Kino«, erzählte Montalban. »Besonders die klassische Periode nach dem Krieg. UndSie, Inspector? Riso amaro . Kennen Sie den Film? Oder La dolce vita oder Divorzio all’italiana ? So starke Emotionen. Und dann die Filmplakate. So wunderbar trivial.«
Die ganze Zeit über hielt er Diaz’ Hand weiter in seinem schlaffen verschwitzten Griff. Filmplakate , dachte Diaz. Das war also die Muse des Profesors .
»Aber Sie sind kein Fan des italienischen Kinos, nicht wahr, Inspector? Und auch nicht der Kunst des Emilio Montalban.« Der Profesor seufzte. »Nein, Sie sind nur wegen der grotesken Ermordung der kleinen Amanda hier. Ein süßes, aber ungeliebtes Kind, schwach und formbar. Ihr morbider Charakter war perfekt für meine Arbeit. Wie auch ihre Kurven.«
Ein wehmütiger Ausdruck schlich sich in Profesor Montalbans Augen. Bestimmt gilt diese Trauer dem Verlust Amandas als Person , dachte Diaz, nicht als künstlerischem Kleiderständer. Montalban erschien ihm nicht wie ein Mann, der auf Titten stand, jedenfalls nicht im traditionellen Sinn.
»Was können Sie mir über Amanda erzählen, Profesor ?«
»Sie gehörte zu den Verirrten. Hat sich hier durch San Miguel treiben lassen wie ein hübsches Stück Papier in
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