Die Tote von San Miguel
Stimme.
»Du hast alles allein ausgesoffen, du dreckiger cabrón !« Der zweite Säufer riss seinem Kumpel die Flasche aus der Hand und schleuderte sie angewidert über die Straße. Sie zerschellte an einem der vorderen Kotflügel des Pick-ups.
Die zwei Säufer glotzten den Wagen ungläubig an. Dann entdeckten sie den Indianer, dessen Kopf und Schultern von der Windschutzscheibe der Fahrerkabine wie ein Bild eingerahmt wurden. Er starrte sie mit abgrundtiefer Bösartigkeit an. Wie ein heller Sonnenstrahl bahnte sich die Ahnung, dass sie jeden Moment sterben könnten, ihren Weg durch den Nebel ihrer Trunkenheit.
»Entschuldigung«, murmelte einer der beiden, die Hände halb erhoben, entweder als Geste der Entschuldigung oder um den Bösen Blick eines Dämons abzuwehren.
In diesem Moment schwang die türkisfarbene Tür der Hausnummer 83 nach innen auf, und Diaz trat hervor. Er musste sich etwas bücken, um sich nicht den Kopf an dem niedrigen Türrahmen zu stoßen.
Sofort richtete sich die Aufmerksamkeit des Indianers ausschließlich auf Diaz’ schlanke, ordentlich gekleidete Gestalt. Dies war ohne jeden Zweifel Inspector Hector Diaz von den San Miguel Judiciales . Das war der Name, der ihm von der flüsternden Stimme am Telefon mitgeteilt worden war, während der Indianer, nahezu komatös, das frühmorgendliche Wechselspiel von Licht und Schatten an der weißgetünchten Zimmerdecke verfolgt hatte. Er hatte die ganzeNacht lang wach in dem kahlen Zimmer gelegen und auf den Anruf gewartet, gefangen in den Klauen einer psychotisch bedingten Schlaflosigkeit.
Er trat die Kupplung des gestohlenen Wagens durch und legte den ersten Gang ein. Dann schob er die rechte Hand unter die beige Windjacke auf dem Beifahrersitz und ließ die Finger beinahe zärtlich über die harten Konturen des Colt Python Kaliber .357 gleiten.
Diaz stieg die beiden niedrigen Stufen auf den Bürgersteig hinab und beugte sich in das offene Beifahrerfenster des marineblauen Polizeiwagens. Corporal Felicia Goya, die am Steuer saß, lächelte ihm kurz zu. »Irgendwas rausgefunden?«, erkundigte sie sich.
»Nada.« Diaz verdrehte die Augen. »Alle gringos sind loco . Aber ich würde gern diesen Künstler namens Gregorowitsch finden. Er ist eine unbekannte Größe in diesem Spiel. Wohnt nicht mehr hier, seit seine Freundin, die Besitzerin des Hauses, ihn im Bett mit einem Flittchen entdeckt hat. Dieser Gregorowitsch muss irgendwo ganz in der Nähe stecken. Wie geht es Smallwood?«
»Schlecht. Ich schätze, dass er einen langen Tag mit viel Alkohol vor sich hat. Als ich das Hotel verlassen habe, hat Armando gerade versucht, ihn aus der Bar loszueisen, wo er eine Stunde lang Unmengen von Scotch in sich reingeschüttet hat.«
»Dann sollte ich wohl besser mit ihm sprechen, bevor er sich bewusstlos gesoffen hat.« Diaz schob sich auf den Beifahrersitz und legte den Sicherheitsgurt an. »Fahr nicht zu schnell«, bat er. »Meine Innereien sind heute immer noch etwas empfindlich.«
Felicia hob wissend eine Augenbraue, die linke, von Diazaus gesehen. Sie drehte den Zündschlüssel um und fuhr mit einem kaum hörbaren Quietschen durchdrehender Reifen los.
Der Dodge Ram sprang aus dem Stand vor und schoss auf die Straße hinaus. Von seinen breiten Reifen und kräftigen Stoßdämpfern trotz des unebenen Kopfsteinpflasters auf Kurs gehalten, jagte er rücksichtslos durch die Schlaglöcher, drei Tonnen Stahl und Chrom, die sich rasend schnell dem nicht halb so kompakten Polizeiwagen näherten. Der Indianer hatte sich weit über das Lenkrad vorgebeugt, den Colt Python in der freien Hand. Eine allergische Reaktion auf anderes Leben ließ seine Haut prickeln und seinen Blutdruck unaufhaltsam in die Höhe steigen wie ein Raubvogel, der sich in einem Aufwind emporschraubt.
Der Dodge war deutlich höher als das Polizeifahrzeug. Mit einem scharfen Ruck des Lenkrads nach rechts und sofortigem Gegensteuern zwang der Indianer die Räder auf der Beifahrerseite über die hohe Bordsteinkante auf den Bürgersteig und schloss zu der dunkelblauen Limousine auf. Aus dieser Schräglage heraus hatte er freies Blickfeld auf Diaz’ Kopf und Schultern. Ohne zu zögern, feuerte er einen Schuss ab.
Felicia hatte den heranrasenden Ram nur wenige Sekunden vorher im Rückspiegel entdeckt. Mi Dios! , schoss es ihr durch den Kopf. Irgendein paisano, der sich den Verstand aus dem Hirn gesoffen hat! Instinktiv riss sie das Lenkrad so heftig nach links, dass Diaz’ Kopf gegen den
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