Die Tote von San Miguel
Und Syd mag keine Besucher, schon gar nicht vor dem Mittag.«
Fünf Minuten später stand Felicia vor einem zweigeschossigen, mangofarbenen Mietshaus. Ein paar wahllos angebrachte marineblaue Wandfliesen und urwaldgrüne Türen vervollständigten das quietschbunte Erscheinungsbild. Die Calle Edgar Poe Nummer 94 konnte bestenfalls als eklektisch bezeichnet werden, schlimmstenfalls als ein herausragendes Beispiel exquisiter Geschmacklosigkeit.
Die Titelmelodie einer Soap Opera, die aus dem Apartment Nummer 1 A drang, hallte von den Wänden und der Decke wider, als versuchte sie, vor sich selbst wegzulaufen. Die Eingangstür zu der Wohnung stand weit offen. Da Felicia nirgendwo eine Klingel entdecken konnte, klopfte sie gegen den Türrahmen und spähte in das Halbdunkel, das auf der anderen Seite herrschte. Ein auf die höchste Drehzahl gestellter Deckenventilator blies ihr einen Luftstrom ins Gesicht.
Vor einem altmodischen Röhrenfernseher hockte eine Frau in einem gewagt geschnittenen Morgenmantel aus Kunstseide und schüttete sich irgendeinen dunklen Alkohol aus kleinen Schnapsgläsern in den Rachen. Eine einzelne Neonleuchte aus dem Badezimmer tauchte das Zimmer in ein Wechselspiel aus Licht und Schatten.
»Syd Diamante?«, fragte Felicia.
Die Frau verdrehte den Kopf und warf einen Blick durch die Eingangstür. »Syd is’ nicht hier«, sagte sie.
»Verarschen Sie mich nicht«, erwiderte Felicia und schob sich entschlossen durch die Tür. »Sie sind Syd. Sie entsprechen haargenau der Beschreibung.«
»Habe ich Ihnen erlaubt einzutreten?«
»Polizei.«
»Wenn das so ist, müssen Sie natürlich unbedingt reinkommen. Fühlen Sie sich ganz wie zu Hause. Wie wär’s mit einem Drink?«
Als Syd aufstand und mit den großen braunen Augen klapperte, erkannte Felicia, dass sie keine Frau, sondern einen hübschen jungen Mann vor sich hatte, aus dessen Wangen und Kinn kurze dunkle Bartstoppeln sprossen wie winzige Drahtimplantate und der eine blonde, platt gedrückte und etwas schief sitzende Perücke trug. Seine Lippen waren mit dem gleichen Rot bemalt, dem Marilyn Monroe zur Berühmtheit verholfen hatte. Ein Morgenmantel mit Leopardenfellmuster umhüllte seinen schlanken Körper. Als er sich mit alkoholgeschwängerter Lässigkeit vor Felicia verbeugte, rutschte ihm die blonde Perücke vom Kopf und blieb reglos wie ein Albinoäffchen auf dem Boden liegen, das von einem tödlichen Aneurysma dahingerafft worden war.
»Upps«, stieß er hervor, als müsste er sich entschuldigen. »Sie können mich Syd nennen. Schicke Klamotten, die Sie da tragen.« Er schwieg einen Moment lang und fügte dann hinzu: »Sind Sie geladen?«
»Geladen?«
»Bewaffnet?«
»Ich bin wegen dem Künstler hier, der die Keramikstatuette von den drei nackten Nutten in Ihrem Schaufenster gemacht hat«, sagte Felicia, ohne auf seine Frage einzugehen. »Ich muss wissen, wie er heißt und wo ich ihn finden kann.«
»Ach, das Ding. Sie wären überrascht, wie viele Touristen Geld für so einen geschmacklosen Schund ausgeben.«
»Davon bin ich überzeugt.« Felicias Stimme klang ungeduldig. Sie klopfte mit einem Fingernagel auf die versiegelteOberfläche eines Beistelltischchens, dessen Platte aus einem Fliesenmosaik bestand. »Verraten Sie mir ganz einfach den Namen dieses beschissenen Künstlers!«
Ihr aggressiver Tonfall schien Syd einzuschüchtern. »Wenn es denn unbedingt sein muss, er heißt Cy Vega. Cy Muñoz Vega. Er wohnt in einem alten palacio am höchsten Punkt der Calle Obispo .«
»Okay. Lassen Sie uns gehen. Wir werden auf dem Weg zu señor Vega einen kleinen Umweg über Ihren Laden machen, um die Skulptur mitzunehmen.«
»Nein, nein, nein! Sie verstehen das nicht. Ich habe vor, mich heute Morgen zu betrinken. Ich werde nirgendwo hingehen. Ich habe Ihnen den Namen und die Adresse genannt. Das reicht.« Syd hielt die Schnapsflasche in die Höhe, die sich als Havanna Club Rum entpuppte. »Wie wär’s mit einem Schluck?«
»Ziehen Sie sich was an. Sie kommen mit mir. Sie sind ein wichtiger Zeuge in einer Mordsache. Außerdem habe ich keine Ahnung, wie dieser Cy Vega aussieht.«
Syd stieß ein Stöhnen aus, ließ sich rücklings auf das karamellfarbene Ledersofa fallen und legte mit einer theatralischen Geste der Hoffnungslosigkeit einen Unterarm über das Gesicht. Der Morgenmantel aus unechtem Leopardenfell klaffte auf und enthüllte seinen gut durchtrainierten Körper sowie einen überdimensionalen zwischen seinen Beinen
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