Die Tote von San Miguel
Samstagnachmittag verschwunden war, kein Flugzeug auf dem Internationalen Flughafen von Guanajuato bestiegen hatte.
Der Tag, der kalt und wolkenverhangen begonnen hatte, war angenehm mild geworden, und der Himmel präsentierte sich in einem milchigen Blau. Felicia legte einen kurzen Halt in Victors Café ein, um sich einen Kaffee und ein Stück Kuchen zu gönnen.
»Wie läuft’s so?«, erkundigte sich Rafael, der die Espressomaschine bediente. Er war seit den Tagen in Felicia verliebt, als sie noch Rallyes gefahren war und er für die Boxencrew eines anderen Fahrers gearbeitet hatte.
Ihr Gesicht verzog sich zu der asymmetrischen Fratze eines Wasserspeiers. Sie schlang ihr gezuckertes Gebäck hinunter und trank ihren Espresso in zwei schnellen Schlucken, während sie die Passanten vor dem Café beobachtete und mit ihrem internen Kriminalometer auf ihr verbrecherisches Potential abschätzte.
»Ich muss los«, sagte sie wortkarg und hob die Hand zu so etwas wie einem Abschiedswinken. Das geringste Anzeicheneiner Ermutigung würde nur dazu führen, dass sich Rafael in einen Stalker verwandelte.
Sie durchquerte den jardín , der wie immer von spazierenden Touristen und herumlungernden Taugenichtsen bevölkert wurde, und marschierte mit zügigen Schritten zehn Minuten lang durch enge und hüglige Gassen, bis sie die Calle Frida Kahlo erreicht hatte, eine alte, erst kürzlich umbenannte Straße.
Syd’s Collectibles hatte noch geschlossen. Felicia betrachtete die kleine Softporno-Statue von Amanda und ihren Freundinnen. Ein ziemlich aufreizendes Luder, wie sie fand. Das kleine Flittchen hatte zu seinen Lebzeiten zweifellos eine beachtliche Anziehung auf einen breiten Querschnitt der männlichen Bevölkerung San Miguels ausgeübt. Jetzt, nach ihrem Tod, war es ihr irgendwie gelungen, geradezu Heiligenstatus zu erlangen. Zumindest in den Augen von Inspector Diaz. Von Hector …
Scheiß drauf , dachte sie. Nicht mein Problem . Andererseits, sollte Diaz eine Art Nervenzusammenbruch erleiden, konnte sich ihre offizielle Beförderung zum Corporal der Judiciales endlos hinauszögern. Hör auf, dir darüber den Kopf zu zerbrechen, und tu einfach deinen Job , ermahnte sie sich.
Also, wo steckst du, Sydney?
Zwei Häuser weiter gab es einen tabaquero , wo billige handgerollte Zigarren, Zigaretten, Lotterielose, Postkarten, Hustenpastillen und – für die gringos – unter dem Ladentisch Ecstasy-Pillen verkauft wurden. Genau der richtige Ausgangspunkt für die Suche nach dem ominösen Syd.
»Eine Cheroot, bitte«, sagte sie und musterte das Gesicht des Verkäufers. Er musste mindestens hundert Jahre alt sein. Zumindest erschien er ihr so. Was wohl bedeutete, dass siein seinen Augen nicht älter als fünfzehn Jahre sein konnte. »Und eine Schachtel Streichhölzer«, fügte sie hinzu.
Sie zählte die von ihm verlangte Summe in Münzen ab und musste ihm das Geld in die ausgestreckte Hand legen, bevor er bereit war, sich von der Zigarre und der cajita de fósforos zu trennen.
Nachdem sie die Zigarre angezündet hatte, bestellte sie eine Fanta. Während sie sich an dem Götternektar labte und die mit Ziegenmist versetzte Zigarre paffte, fragte sie scheinbar beiläufig: »Wo kann ich Syd finden?«
»Syd macht erst ab eins auf«, erwiderte der Alte.
»Ist mir bewusst. Aber ich muss sofort mit ihm sprechen.«
»Wenn du Arbeit suchst, kann ich dir verraten, dass du dir keinen Gefallen tust, wenn du sie zu Hause aufsuchst.«
»Soll das heißen, Syd ist eine Frau?«
»Syd ist sich da selbst nicht ganz sicher.«
»Wie auch immer. Ich muss sie oder ihn sprechen.«
»Bist du eine Kundin? Syd zahlt mir immer eine kleine Provision, wenn ich ihm Kunden bringe.«
»Klar, sicher doch. Ich bin eine Kundin. Wenn ich Syd sehe, werde ich ihr oder ihm erzählen, dass Sie mich aufgegabelt haben, als ich ziellos durch die Straßen geirrt bin.« Felicia drückte dem uralten Verkäufer eine Hundert- peso -Note in die Hand. Er hielt den Schein gegen das Licht, um ihn auf seine Echtheit hin zu überprüfen. Offenbar fiel das Ergebnis zu seiner Zufriedenheit aus, denn er strich ihn glatt, faltete ihn zusammen und schob ihn sich in die Hemdtasche. »Syd Diamante wohnt zwei Häuserblocks weiter in einer kleinen Mietwohnung.« Er nannte Felicia die Adresse.
»Eine grauenhafte Zigarre«, sagte sie und ließ die Cherootin den Rinnstein fallen, wo sie wie ein politisch inkorrekter Gedanke weiter vor sich hin qualmte.
»Leck mich, Fräulein.
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