Die Tote von San Miguel
oberen Treppenabsatz in Sicht. Unter ihrer zerrissenen Bluse lugte eine schmale braune, nicht unattraktive Schulter und eine rasierte Achselhöhle hervor. Ihre Augen wirkten so entrückt wie die einer unter Drogen stehenden indianischen Prinzessin, die auf dem höchsten Punkt einer aztekischen Pyramide darauf wartete, dass der Priester ihr mit einem Obsidiandolch die Brust aufschlitzte, um ihr anschließend bei lebendigem Leib das noch zuckende Herz herauszureißen. Oder so verschleiert wie die Augen einer Frau, die unter Schock stand.
»Irgendjemand hat señor Vega erschossen!«, stieß sie hervor.
Diaz erreichte die letzte Stufe, hechtete auf die unsicher taumelnde Paloma zu, riss sie mit sich zu Boden und begrub sie unter seinem Körper, um sie aus der unmittelbaren Gefahrenzone zu schaffen. Dann rollte er sich von ihr herunterauf den Bauch, die Ellbogen auf den Boden gestützt, die Pistole schussbereit in der Hand.
Plötzlich erschien schräg hinter ihm ein Fuß in einer huarache und trat ihm die Pistole aus der Hand. Die Glock schlitterte klappernd über die Bodenfliesen. Der Lauf eines großkalibrigen Revolvers, der von oben auf ihn herabzuckte, verfehlte seine Schläfe nur um Haaresbreite.
Alles, was Felicia von ihrer Position aus auf der obersten Etage des palacio wahrnehmen konnte, waren schattenhafte Bewegungen. Sie gab einen Warnschuss ab, der den Angreifer offenbar in Panik versetzte. Statt erneut zu versuchen, Diaz mit dem Revolverlauf auf den Kopf zu schlagen, beschränkte er sich darauf, ihm mit seiner schäbigen huarache einen letzten Tritt gegen das Kinn zu versetzen, bevor er herumwirbelte und zum entgegengesetzten Ende des Raumes floh.
Diaz rollte sich seitlich ab. In seinem Kopf dröhnte es, verwaschene schwarze Schatten huschten vor seinen Augen umher. Er zählte bis fünf, bevor er sich auf Hände und Knie hochstemmte und sich schüttelte, um die Benommenheit und Schmerzen zu vertreiben und wieder einen klaren Gedanken zu fassen. Du verdammtes Arschloch! , schoss es ihm durch den Kopf. Obwohl alles so schnell gegangen war, hatte er den Eindringling erkannt. Es war Emile Zato.
Während er noch darum kämpfte, die Kontrolle über seinen Körper zurückzugewinnen, war der Bandit bereits quer durch das Atelier in Richtung eines bienenkorbförmigen Brennofens gerannt. Er schob seinen alten Colt .45 unter den Gürtel seiner schmierigen Hose und hechtete auf die Brüstung, die hinter dem Brennofen verlief. Einen Meter unter der Ebene des Ateliers erstreckte sich eine zerfallende alte Trennmauer von einem Nachbarhaus über einen feuchtenHinterhof bis zur Außenmauer des Palacio St. Jude . Zato sprang ohne das geringste Zögern wie Dracula über das Geländer und landete auf der Mauer, die beide Gebäude miteinander verband. Lose Ziegel und große Mörtelbrocken lösten sich unter seinen Füßen und prasselten zwei Stockwerke tiefer auf den Boden. Der Bandit balancierte über die marode Mauerkrone, die Arme seitlich ausgebreitet, den schmutzstarrenden Schaffellumhang wie zwei Fledermausschwingen hinter sich herziehend.
Felicia erreichte den oberen Treppenabsatz gerade noch rechtzeitig, um sehen zu können, wie Zato einem Vampir gleich von der Brüstung sprang. Sie erfasste den gesamten Raum mit einem schnellen Blick. Das Atelier war ein chaotisches Durcheinander aus Arbeitstischen, tönernen Gussformen, diversen Werkzeugen, Säcken mit Tonerde, Farbdosen, Pinseln und Bürsten. Ein verrostetes Eisendach überspannte nur einen Teil des Stockwerks. Neben dem Brennofen stand ein Regal mit säuberlich gestapelten Hartholzscheiten. Cy Vega lag inmitten einer großen Blutlache auf dem Boden seines Studios, das Gesicht eine Maske des Todes.
Diaz richtete sich stöhnend auf und stolperte auf die Brüstung zu, hinter der Emile Zato verschwunden war, als hätte er sich in Luft aufgelöst.
Felicia wirbelte herum, ohne ein Wort zu verlieren, und hastete die Treppe zur ersten Etage hinunter, immer zwei Stufen gleichzeitig nehmend. Aus halber Höhe der Treppe zwischen erstem Stock und Erdgeschoss sprang sie einfach los, landete auf den rutschigen Bodenfliesen, fand mit rudernden Armen das Gleichgewicht wieder und eilte auf den Vorhof der Villa hinaus.
Zu ihrer Rechten verlief die Mauer, die sich wie ein Brückenbogenvom Nachbarhaus zur Außenmauer der Villa spannte. Zato balancierte noch immer über die Mauerkrone. Felicia hob ihre Waffe und zielte, doch da sprang der Bandit plötzlich in die Tiefe und
Weitere Kostenlose Bücher