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Die Tote von San Miguel

Die Tote von San Miguel

Titel: Die Tote von San Miguel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Woods
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Vor der göttlichen Gestalt flackerte ein halbes Dutzend Kerzen. Daneben stand ein Teller mit diversen Speisen als Opfergabe. Es konnte eben nicht schaden, vorsorglich alle Register zu ziehen.
    Die mürrische Dienerin führte die Besucher einen Treppenaufgang hinauf, dessen Marmorstufen im Laufe der Zeit von zahllosen Füßen ausgetreten worden waren. Am Ende der Treppe klopfte sie zögernd an eine uralte, mit schmiedeeisernen Einlegearbeiten verzierte zweiflüglige Tür.
    »Komm rein, gottverdammt!«, ertönte eine tiefe Stimme. »Komm schon rein, komm rein!«
    Diaz stieß die Türflügel auf und erblickte eine weitläufige, teilweise nicht überdachte Galerie.
    Im hinteren Drittel des Raumes, der die Ausmaße einer Scheune hatte, erhob sich eine riesige Gestalt hinter einem filigranen, reich verzierten Schreibtisch, einem handbemalten französischen Möbelstück, das vielleicht ebenso alt wie die Villa selbst war. Eine Hand des Mannes fuchtelte mit einem schweren Spazierstock aus knotigem Holz herum. Ein zerzauster Bart versuchte erfolglos, die fahle, ungesund erscheinende Haut seines Trägers zu kaschieren. Kalt glitzernde Augen blickten aus tiefen, von Fleisch und Knochen geformten barrancas hervor.
    Der Riese öffnete mit theatralischer Mimik den Mund. »Wer sind diese Arschlöcher, die mich zu dieser kritischen Stunde heimzusuchen belieben?«, dröhnte seine tiefe Bassstimme.
    »Entschuldigen Sie uns«, erwiderte Diaz ungerührt.
    »Das ist señor Vega«, warf Syd ein.
    »Sie stören mich in einem heiligen Moment, da ich im Begriff bin, die Eingeweide zu lesen«, verkündete Vega. »Ich muss Sie bitten zu gehen, bevor Sie mit Ihren fremden Schwingungen die Essenz des Deutungsmediums versauen.«
    Vega kam näher, um den ungebetenen Besuchern mit seiner massigen Gestalt die Sicht auf den Schreibtisch zu versperren, doch Diaz konnte noch eine große, anscheinend tote Taube erkennen, die seitlich auf dem mit einer Schicht Zeitungspapier bedeckten Schreibtisch lag. Aus einem unregelmäßigen Schnitt im Bauch des Vogels quollen blutige Gedärme hervor. Diaz fragte sich, ob es sich bei dem, was Vegahier trieb, um einen Vorgang handelte, der aus strafrechtlicher Sicht verboten war.
    Er und Vega umtänzelten einander, täuschten wie Fechter Ausfälle nach links und nach rechts an, bis Diaz schließlich an Vega vorbei zu einer Sitzgruppe unter dem offenen Dach der Galerie huschte. Liegestühle mit schmiedeeisernen Gestellen und geblümten Polsterauflagen gruppierten sich in einem Viereck um einen niedrigen Tisch herum. Diaz nahm unaufgefordert auf einem der Liegestühle Platz und blickte zu Vegas riesiger Gestalt empor.
    » Señor Vega, nehme ich an.«
    Vega fuhr sich mit einer großen Pranke über das Gesicht, als könnte er nicht glauben, was hier geschah. Als hoffte er, dass alles zu dem unbefleckten dharmischen Zustand zurückkehren würde, der bis zum Eintreffen dieser störenden Arschlöcher in seinem Heim geherrscht hatte, wenn er nur die Augen schloss, sich dreimal um die eigene Achse drehte, gegen den Wind spuckte und den Urin einer seltenen Hochlandkröte trank.
    »Wir ermitteln in einem Mordfall«, fuhr Diaz fort. »Dessen Spur uns hierhergeführt hat.«
    »Ein Mord. Ja, natürlich beschäftigt Sie das. Das große Vermächtnis des zwanzigsten Jahrhunderts, millionenfacher Mord. Ethnische Säuberungen.« Vega wandte sich dem Zimmermädchen, der Köchin oder was auch immer sie sein mochte zu. »Paloma, du kannst an deine Arbeit zurückkehren. Es ist alles in Ordnung.«
    Paloma machte mit einem verkniffenen Lächeln kehrt und verschwand wortlos.
    »Und bring uns bitte Kaffee!«, rief er ihr hinterher. Sein Blick glitt von Diaz über Syd zu Felicia und blieb an ihr hängen. »Kaffee für vier Personen.«
    Felicia erwiderte seinen Blick unbeeindruckt. »Ich hätte lieber eine Cola Light«, sagte sie.
    »Bravo!«
    » Señor Vega«, begann Diaz. »Trifft es zu, dass Sie Künstler sind? Bildhauer, um genau zu sein?«
    »Ich bin ein Gott, Inspector. Ein Künstler war ich in einem früheren Leben.«
    »Natürlich sind Sie das«, erwiderte Diaz verständnisvoll. Der Mann war offensichtlich irre.
    »Syd verkauft Ihren Kram, nicht wahr?«, erkundigte sich Felicia. Sie nickte in die Richtung des schweigenden jungen Mannes, der nach wie vor stand. »Ich meine, die Sachen, die von Ihrem früheren Ich hergestellt werden.«
    »Für ein wenig Taschengeld. Manchmal reicht meine monatliche Berufsunfähigkeitsrente nicht aus, um

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