Die Tote von Schoenbrunn
ihren Gemächern empfangen oder gar durch ihr Boudoir führen würde, im Fall seiner Tante lag es eher an dem Chaos, das in ihren Räumlichkeiten herrschte. Vera hatte viele gute und sogar jede Menge beeindruckende Eigenschaften, aber Sinn für Ordnung zählte nicht dazu. Sie war die unordentlichste Person, die Gustav kannte. In ihrem Zimmer stolperte man bei jedem Schritt über Bücher, Gewänder und Krimskrams. So sehr sich Josefa bemühte, Vera gelang es stets innerhalb von ein paar Stunden, deren Aufräumarbeiten wieder zunichte zu machen.
„Graf Batheny ist mir seltsam vertraut vorgekommen, obwohl ich ihn in den letzten Jahren ja kaum gesehen, geschweige denn mit ihm gesprochen habe. Ich habe mich mit ihm wie mit einem guten alten Freund unterhalten. Er hat mir von seinen Töchtern erzählt, vor allem von der jüngeren Tochter, die nach wie vor in seinem Haushalt lebt, oder am Hof, wenn die Kaiserin ausnahmsweise einmal in Wien war. Marie Luise scheint eine dieser Auserwählten zu sein, die Ihrer Majestät Gesellschaft leisten durften, wenn sie in Schönbrunn weilte, denn Marie Luise ist eine Dichterin, so wie die Kaiserin, die sich ja auch als Poetin betrachtet hat. Die beiden Damen haben sich stundenlang gegenseitig ihre literarischen Werke vorgelesen. Deine Halbschwester ist, mit ihren achtundzwanzig Jahren, immer noch unverheiratet, obwohl seit neun Jahren mit einem Erzherzog verlobt. Er ist zwar nur ein Titular-Erzherzog, also kein Thronfolger, aber immerhin … Der ganze Hof macht sich übrigens lustig über die ‚ewige Verlobte‘. Marie Luise hat den mittlerweile dritten Hochzeitstermin im letzten Frühjahr wegen einer gemeinsamen Korfureise mit der Kaiserin verschoben.“
„Tratsch und Klatsch ist ja sowieso die Lieblingsbeschäftigung der hochherrschaftlichen Damen und Herren“, bemerkte Gustav abfällig.
„Du hast vollkommen Recht. Marie Luise scheint eine ungewöhnliche junge Frau zu sein. Sie stört sich nicht daran, dass sie sich mit ihrer abgöttischen Verehrung der Kaiserin und großen Dichterin Elisabeth zum Gespött des Hochadels gemacht hat. Im Gegenteil, sie hat der Kaiserin offenbar in allem nachgeeifert: Diäten, Hungerkuren, sportliche Betätigungen bis an den Rand der Erschöpfung und sonstige Extravaganzen …“
„Und? Was willst du mir damit sagen?“
„Der Graf hat dir erzählt, dass die Comtesse vor kurzem angeblich überfallen worden ist, oder? Er scheint diese Geschichte nicht zu glauben, vermutet vielmehr, dass sich Marie Luise selbst die Schnitte am Unterarm beigebracht hat. Vielleicht, um sich interessant zu machen? Oder, um denselben Schmerz zu spüren wie ihre hochverehrte Kaiserin? Wer weiß, was in den Köpfen solch junger Frauen, oder vielleicht eher ‚alter Mädchen‘ vorgeht? Ich denke, du solltest dich in Zukunft ein bisschen um deine Halbschwester kümmern. Und rede ruhig mit Dorothea darüber, sie beschäftigt sich ja intensiv mit dieser neuen Wissenschaft.“
„Du meinst mit der Psychoanalyse des Herrn Doktor Freud?“
„Ja, was denn sonst?“
„Oh nein! Ich höre mir kein zweites Mal freiwillig einen von Dorotheas Vorträgen über meine Minderwertigkeitsgefühle an.“
„Es geht nicht um dich, Gustav! Über Marie Luise sollst du mit ihr reden. Deine Halbschwester steckt bis zum Hals in Schwierigkeiten. Ich bin überzeugt, dass Graf Batheny Recht hat und sie diese Attacke erfunden hat. Reines Wunschdenken, klassische Hysterie, würde Doktor Freud sagen.“
„Nein, fang nicht du auch noch mit diesem Unsinn an, Tante!“
12
Kaum hatte Gustav in einem dunkelbraunen Lederfauteuil im Empfangszimmer der Villa seines Vaters in Hietzing Platz genommen, betrat Graf Batheny im Reitanzug und in Begleitung eines großen kräftigen Herren den Vorraum. Offensichtlich kamen die beiden von einem morgendlichen Ausritt zurück.
Der Graf stellte Gustav seinem Schwiegersohn in spe vor und bat seinen Sohn wortreich um Pardon, weil er sich um ein paar Minuten verspätet hatte.
Gustav war zu früh gekommen, dennoch empfand er es als Missachtung seiner Person, dass sein Vater ihn warten hatte lassen.
Er musterte den Erzherzog mit halb geschlossenen Lidern.
Erzherzog Karl Konstantin war ein stattlicher, gut aussehender Mann Ende dreißig. Sein Gesicht hatte eine gesunde rosa Farbe, war jedoch etwas aufgedunsen. Helle blaue Augen, typische Habsburger-Nase und -Lippen und volles blondes Haar. Er war gut gebaut, hatte kräftige Schenkel und stramme Waden, die die
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