Die Tote
Neugeborenes? Die aber aus den unterschiedlichsten Gründen keine Chance haben, einen Säugling vermittelt zu bekommen? Da reicht es schon, wenn Sie als Frau fünfundvierzig sind. Obwohl es genügend Mütter gibt, die in dem Alter noch gebären.«
Charlotte schwieg, ebenso wie Maren.
»Und wissen Sie auch, wie viele minderjährige Mädchen schwanger werden, weil sie zu naiv sind oder weil sie von ihren Vätern oder Großvätern oder Onkeln oder sonst wem missbraucht wurden? Wissen Sie, wie viele Anrufe wir von verzweifelten jungen Mädchen erhalten, die nicht weiter wissen, weil sie schwanger sind? Die sich nicht nach Hause trauen, weil in unserer ach so aufgeklärten Gesellschaft viele Mütter und Väter es immer noch als Schande ansehen, wenn eine Fünfzehnjährige schwanger wird? Wir haben diesen Mädchen geholfen. Sie konnten ihre Kinder bekommen, ich habe sie gut untergebracht. Die Mädchen haben ihren Teil der Abmachung erhalten, und alles war gut. Wem schadet das Ganze? Die Adoptiveltern sind überglücklich, wenn sie ein Neugeborenes bekommen, die Kinder sind bestens versorgt, und die Mütter bekommen eine Art Abfindung und sind ihre Sorgen los. Was ist daran verkehrt? Und außerdem«, Frau Meiler kam richtig in Fahrt und fixierte Charlotte, »Sie müssten doch wissen, wie viele Frauen ihre Babys umbringen, weil sie entweder schon einen Stall voller Kinder haben, weil sie nicht wissen, woher sie das Geld für noch ein Kind nehmen sollen, oder weil sie Angst haben, dass ihr Kerl sie sitzen lässt, wenn sie ein Kind kriegen. Wenn diese Frauen ihr Kind kriegen könnten und dafür angemessen abgefunden würden, wäre doch alles klar. Sogar die Kerle würden dann wahrscheinlich bei der Stange bleiben, würden die Frauen vielleicht sogar anständig behandeln. Da käme ja Geld ins Haus. Ganz davon abgesehen, dass keiner mehr ein Kind umbringen würde. Alle würden es pfleglich behandeln. Man kann es ja zu Geld machen. Und ganz nebenbei …«, jetzt lächelte Frau Meiler, »würde es dann wieder mehr Kinder geben. Sie sehen, es wäre die Lösung für ganz viele Probleme.«
Sonja Meiler legte die Hände zusammen und guckte so selbstzufrieden, als habe sie soeben die Sorgen der Menschheit gelöst, aber feststellen müssen, dass die Menschheit zu blöde war, das zu kapieren.
Charlotte wollte es sich nicht eingestehen, aber das, was Sonja Meiler da sagte, entbehrte nicht einer gewissen Logik. Dennoch.
»Haben Sie auch an ein Umtauschrecht gedacht, wenn das Kind sich nicht den Erwartungen gemäß entwickelt? Die Schulnoten zu schlecht sind? Oder es krank ist? Oder sind Babys vom Umtausch ausgeschlossen?«
»Jetzt kommen Sie mir doch nicht so! Adoptiert ist adoptiert. Da gibt’s kein Zurück, das wissen die Paare auch.«
»Und warum ist das Kind von Janina Heimann dann in der Babyklappe abgegeben worden?«
Sonja Meiler winkte ab. »Ach ja, die beiden Alten waren so hingerissen von dem ruhigen Kind, die wollten gar keine Untersuchung. Haben ihn sofort mitgenommen. Was können wir dafür, wenn die dann nachher der Sache nicht gewachsen sind? Sind viele leibliche Eltern übrigens auch nicht.«
Charlotte rieb sich die Augen. Sie fühlte sich dieser Frau im Moment nicht wirklich gewachsen, aber vielleicht lag das daran, dass sie einfach übermüdet war.
»Wo haben Sie die Geburten angezeigt?«
Frau Meiler lächelte. »Ich wusste, dass Sie da nicht so schnell draufkommen würden. In einem Kaff im Wendland, da hat meine Mutter eine Wohnung. Die hab ich als Geburtsort angegeben. Ich hab die Mädchen als Zeugin zum Standesamt begleitet. Da hat’s keine Probleme gegeben. Ich bin beim Jugendamt. Und die Adoptionspapiere hab ich selber ausgestellt. Guckt sowieso hinterher keiner mehr drauf. Die Mädchen hatten schon vor der Geburt unterschrieben.«
»Was ist mit Janina passiert?«, wollte Charlotte wissen.
Frau Meiler spielte mit einer Haarsträhne. »Ja, das mit Janina ist schiefgegangen, und Sabrina hat dann nachgezogen. Die haben sich nicht an die Abmachung gehalten.«
»Was heißt das?«
»Janina wollte ihr Kind zurück. Und als wir ihr gesagt haben, dass das unmöglich sei, ist sie durchgedreht und einfach nachts auf und davon und mit der Bahn losgefahren. René ist ihr nach und hat mich benachrichtigt. Thomas und ich sind mit dem Wagen zum Bahnhof gekommen. Wir haben sie wieder eingesammelt, aber ich musste vor dem Zebrastreifen vor der Oper halten, und da ist sie einfach aus dem Wagen gesprungen und
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