Die Toten befehlen
Respekt einflößte, verging die Zeit, ohne daß es zu einem Ehrenhandel kam.
In Barcelona erhielt er eines Tages ein Telegramm mit der Mitteilung, daß seine Mutter schwer erkrankt sei. Zwei Tage mußte er warten, ehe ein Schiff abging. Als er endlich in Mallorca ankam, war sie schon gestorben. Der Palast stand leer, nur Madó Antonia erinnerte ihn an die alten Zeiten.
Mit dreiundzwanzig Jahren war Jaime nun unumschränkter Herr des allerdings stark zusammengeschmolzenen Vermögens der Febrer. Auch auf dem Rest lasteten große Hypotheken, aber Jaime verspürte keine Lust, Ordnung in diese verworrenen Verhältnisse zu bringen. Er wollte das Leben genießen unddie Welt kennenlernen. Was kümmerte ihn noch das römische und das kanonische Recht? Er hatte genug davon. Dank seiner Mutter, von der ihm außer Musik- auch Sprachstunden erteilt worden waren, sprach er geläufig Französisch. Viele Edelleute besaßen geringere Kenntnisse.
Zwei Jahre blieb er in Madrid, wo seine Mätressen und seine Pferde Aufsehen erregten. Er war eng befreundet mit einem berühmten Torero, spielte hoch in den Klubs der Straße von Alcalá und kam endlich auch zu seinem Duell. Leider wurde die Forderung mit Floretts ausgetragen und brachte ihm einen leichten Stich in den Arm ein.
Aber er war nicht mehr »der Mallorquín mit den Unzen«. Der von seiner Mutter sorgsam gehütete Schatz war erschöpft. Sein Verwalter in Palma mußte neue Hypotheken aufnehmen.
Da das Leben in Madrid ihn langweilte, auch die alte Reiselust der Febrer in ihm erwachte, entschloß sich Jaime, Europa kennenzulernen. Den Herbst brachte er in Paris zu, den Winter an der Riviera; der Frühling sah ihn in London und der Sommer in Ostende. Zwischendurch unternahm er lange Reisen nach Italien, Ägypten und nach Norwegen, wohin ihn die Mitternachtssonne lockte.
Seinen achtundzwanzigsten Geburtstag beging Jaime in München. Er kam von den berühmten Wagneraufführungen in Bayreuth und wollte jetzt die Mozart-Festspiele in der bayerischen Hauptstadt besuchen. Hier lernte er Mary Gordon kennen, dieselbe, an die er sich kurz vor seiner Abfahrt nach Valldemosa so lebhaft erinnerte. Die junge, schlanke Engländerin, mit großen blauen Augen und goldblondem Haar,machte durch ihre auffallende Schönheit einen starken Eindruck auf ihn. Sie selbst, die Musik studiert hatte und einen leidenschaftlichen Wagnerkult trieb, fühlte sich durch seine Ähnlichkeit mit Richard Wagner zu ihm hingezogen. Wochenlang besuchten sie gemeinsam die Galerien und Kunststätten der Stadt. Dieses ständige Beisammensein brachte sie schnell einander näher, und das junge Mädchen, das in Jaime das Abbild ihres Idols sah, empfand für ihn eine hemmungslose Passion ...
Vom Glück berauscht, erschien ihnen München häßlich. Sie hatten das Gefühl, weit fortfliegen zu müssen – und eines Tages standen sie in einem Hafen, an dessen Eingang ein großer steinerner Löwe Wache hielt. Hinter ihm dehnte sich ein See aus, so groß, daß sein Wasser am Horizont in den Himmel überging. Sie waren in Lindau. Zwei Dampfer lagen fahrtbereit. Der eine würde sie nach der Schweiz führen, der andere nach Konstanz. Sie entschieden sich für die stille deutsche Stadt, bekannt geworden durch das berühmte Konzil, und nahmen Wohnung im Inselhotel, dem früheren Dominikanerkloster.
Jaime war bewegt, als er an diese Zeit, die glücklichste seines Lebens, zurückdachte. Wie deutlich stand heute noch alles vor seiner Seele. Die Fenster seines Zimmers gingen auf einen Garten mit hohen, blühenden Rosenstöcken; dahinter lag die weite Fläche des Sees, purpurn gefärbt durch die aufgehende Sonne. Die ersten Fischerboote fuhren aus; in der Ferne erklangen die Glocken der Kathedrale. Neben seinem Balkon, so nahe, daß er ihn mit der Hand berühren konnte, stand ein kleiner runder Turm mit einem Schieferdach und alten Wappen auf der Wand. Indiesem Turm hatte man Johann Hus gefangengehalten, ehe er zum Scheiterhaufen ging. Armer Johann Hus! Angesichts einer solch herrlichen Landschaft verbrannt zu werden, vielleicht an einem ebenso schönen Morgen! ... Den Kopf in den Rachen des Löwen zu stecken und das Leben zu lassen nur wegen der Frage, ob der Papst gut oder schlecht sei, ob die Laien den Kelch empfangen sollten wie die Priester oder nicht! Wegen solcher Nichtigkeiten zu sterben! Jaime sah das Leben mit anderen Augen an. Es lebe die Liebe! ... Das einzige, was in diesem Dasein ernst zu nehmen war.
Von Konstanz gingen sie
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