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Die Toten befehlen

Titel: Die Toten befehlen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vincente Blasco Ibañez
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nach Liverpool. Das Gesicht war umrahmt von einem schmalen Backenbart, und an den Ohren baumelten blanke kupferne Ringe.
    An den ersten. Tagen vergaß Jaime oft, auf die Angelschnur in seiner Hand acht zu geben, so sehr warer versunken in den Anblick des riesigen Felsens. Durch die Klippen, die ihn wie eine Mauer umgaben, drängte sich das Meer in große unterirdische Grotten. Früher ein Zufluchtsort für die Piraten, dienten sie heute den Schmugglern noch manchmal als Versteck. Von Fels zu Fels springend, konnte man bis zu den Sevenbäumen gelangen, die am Fuße des Berges wuchsen, aber vergebens suchte man nach einer Möglichkeit, an den glatten, steilen Wänden emporzuklimmen. Näher zum Gipfel lagen sanfte, grün bewachsene Abhänge, auf denen Febrer rotbraune und weiße Tiere sich bewegen sah. Es waren die wilden Ziegen des Vedrá.
    Einmal gab Jaime aus seiner Flinte zwei Schüsse ab, nur um das Vergnügen zu haben, die Ziegen auf ihrer wilden Flucht zu beobachten. Mit unglaublicher Gewandtheit sprangen und kletterten sie über Felsen, Abhänge und Klüfte zum Gipfel empor. Aber die Schüsse hatten auch andere Bewohner des Vedrá aufgeschreckt. Hunderte von Möwen erfüllten mit schrillem Schrei den stillen Kanal, und über dem Gipfel stiegen Falken auf, die dort oben in unerreichbarer Höhe horsteten.
    Der Alte zeigte Febrer dunkle Öffnungen an den steilsten Wänden, zu denen nicht einmal die Ziegen gelangen konnten. Aber er wußte doch, was sich in ihnen verbarg. Es waren jahrhundertealte Bienenstöcke, denn zu einer gewissen Jahreszeit hatte er goldene Fäden gesehen, die aus diesen schwarzen Löchern herauskamen und sich an den Felsen abwärtsschlängelten. Von der Sonnenwärme geschmolzen, träufelte der an den Eingängen aufgespeicherte Honig nutzlos an dem Gestein herab.
    Mit befriedigtem Brummen zog Ventolera seine Angelleine hoch.
    »Das ist die achte«, sagte er, löste von einem der Haken eine Art dunkelgrauer Languste und warf sie zu den anderen in einen Binsenkorb, der neben ihm stand.
    »Väterchen Ventolera, singst du heute nicht die Messe?«
    »Wenn Sie erlauben, gern, Herr.«
    Jaime kannte seine Vorliebe für die lateinischen Texte. Seit der Alte keine Seereisen mehr machte, war sein einziges Vergnügen, an jedem Sonntag in der Dorfkirche von San José oder San Antonio auf die Worte des Priesters die vorgeschriebenen Antworten zu singen. Aber allmählich hatte er die Gewohnheit angenommen, dieses Responsorium stets anzustimmen, wenn er guter Laune war.
    »Also hören Sie!« sagte der Alte in einem Ton, als stände er im Begriff, seinem Zuhörer einen außerordentlichen Genuß zu bereiten.
    Er nahm das Gebiß aus seinem Munde, verwahrte es im Gürtel, räusperte sich ein paarmal und begann mit zitteriger Fistelstimme zu singen. Jaime lachte über die Begeisterung, mit der Ventolera die Augen verdrehte und eine Hand aufs Herz legte, wobei er aber nicht vergaß, den Volanti festzuhalten. Während er zuhörte, beobachtete Febrer aufmerksam seine eigene Leine. Aber kein Zucken verriet, daß ein Fisch angebissen hatte. Der ganze Fang war für den Alten. Dies verdarb allmählich seine gute Stimmung, und der Singsang fing an, ihm lästig zu werden.
    »Genug, Väterchen Ventolera, genug! Du verscheuchst alle Fische!«
    »Das gefiel Ihnen, nicht wahr?« fragte dieser treuherzig. »Aber ich kenne auch noch andere schöne Sachen. Ich werde Ihnen jetzt die berühmte Ballade vom Kapitän Riquer singen, eine wahre Begebenheit, die mein Vater noch miterlebt hat.«
    Jaime wehrte ab.
    »Nein, nein, nichts vom Kapitän Riquer.« Er kannte diese Heldentat schon auswendig. Seit drei Monaten fischten sie gemeinsam, und fast jede Fahrt hatte mit diesem Vortrage geendigt.
    »Es ist zwölf Uhr, Väterchen. Fahren wir zurück, sie beißen auch nicht mehr an.«
    Der Alte schaute nach der Sonne, die jetzt über dem Gipfel des Vedrá stand. Es war noch nicht ganz Mittag, aber viel konnte nicht mehr fehlen. Dann betrachtete er das Meer.
    »Der Herr hat recht, die Fische werden nicht mehr anbeißen. Für meinen Teil bin ich auch mit dem Fang zufrieden.«
    Mit seinen dürren Armen hißte er das dreieckige Segel. Das Boot legte sich auf die Seite und begann, in immer schnellerer Fahrt das Wasser zu durchschneiden. Mit leisem Gluckern brachen sich die kleinen Wellen an seinem Bug. Sobald sie aus dem Kanal heraus waren, hielten sie sich direkt unter der Küste von Ibiza. Jaime führte das Steuer, während der Alte den Fischkorb

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