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Die Toten befehlen

Titel: Die Toten befehlen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vincente Blasco Ibañez
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Kathedrale hoben sich scharf ab von dem blauen Hintergrund des Himmels. Hinter ihr ragten die roten Türme des alten Maurenschlosses, des Alcazar de la Almudaina.
    Unempfänglich für die strahlende Sonne, das sanfte Rauschen des Meeres und den Gesang der Vögel, fühlte sich Jaime von einer tiefen Melancholie, von einer dumpfen Verzweiflung erfaßt. Warum gegen die Vergangenheit kämpfen? Konnte man sich von dieser Kette befreien?
    Wie oft waren ihm in seiner Jugend düstre Gedanken gekommen, wenn er von einem erhöhten Punkt aus die Stadt Palma und ihre lachende Umgebung betrachtet hatte. Jenseits der Umwallung der Stadt lagen die traurigen Mauern des Friedhofes, hinter denen sich weiße Bauten, überragt von dunklen Zypressen eng zusammendrängten.
    Wie groß mochte wohl die Zahl der Einwohner in der Stadt der Lebenden sein? Wie viele waren es, die in den prunkvollen Palästen, den hohen Häusern undden armseligen Hütten wohnten? ... Sechzigtausend ... achtzigtausend? ... doch in der Totenstadt dicht dabei, in den kleinen weißen Häusern unter den Zypressen, wie viele unsichtbare Bewohner! Vierhunderttausend? ... sechshunderttausend? ... Vielleicht eine Million! ..
    Jahre später, als Jaime einen Spaziergang in der Umgebung von Madrid machte und in diesen stillen Totenstädten verweilte, die wie ein Gürtel von Forts die ganze Stadt einschließen, hatte er dieselbe Empfindung gehabt. In Madrid pulsierte das Leben einer halben Million Menschen, von denen jeder glaubte, sein Geschick selbst zu bestimmen. Sie vergaßen die vier, sechs oder acht Millionen, die unsichtbar in ihrer Nähe wohnten.
    Diese düsteren Gedanken verfolgten Febrer in Paris und in allen großen Städten, die er besucht hatte. Nirgendwo waren die Lebenden allein, überall umgaben sie die Toten, die, in unendlich größerer Anzahl, mit der Autorität der Vergangenheit schwer auf ihrem ganzen Dasein lasteten. Nein, die Toten gingen nicht fort, wie der Volksmund sagte. Sie blieben unbeweglich am Rande des Lebens. Und welche Tyrannei! Welch grenzenlose Macht! Es war zwecklos, die Augen abzuwenden und zu versuchen, sie aus dem Gedächtnis zu bannen. Wir finden sie überall wieder, sie stehen vor uns auf, um uns an ihre Wohltaten zu erinnern und zu einer Dankbarkeit zu zwingen, die uns demütigt und knechtet.
    Unser Haus war von ihnen erbaut. Die Religionen hatten sie gegründet. Sie schufen die Gesetze, denen wir gehorchen. Unsere Neigungen, unser Geschmack, unsere Moral, Sitten und Gebräuche, Vorurteile, ja, auch die Ehre, alles war ihr Werk.
    Febrer lächelte traurig. So glauben wir, sagte er sich, unsere eigenen Gedanken zu haben. Was uns aber bewegt, ist eine Kraft, die vor uns andere belebt hat, ähnlich dem Saft, der durch das Pfropfreis auf junge wilde Pflanzen das Leben und die Energie alter Bäume überträgt. Wie viele unserer Ideen, die wir für Schöpfungen unseres eigenen Geistes halten, waren schon seit unserer Geburt in unserm Hirn eingekapselt, um plötzlich eines Tages ihre Hülle zu sprengen. Tugenden und Fehler, Sympathien und Antipathien, alles ist ererbt, ein Legat der Toten, die in uns weiterleben.
    Man glaubt, daß sie verschwunden sind, aber sie sind da und überwachen uns mit Strenge. Wenn wir von dem Wege abweichen wollen, den sie uns vorgezeichnet haben, so führen sie uns durch eine unmerkliche, aber sichere Mahnung zurück. Sie verlassen uns nicht, weil sie unsere Herren sind. Die Toten befehlen, und es ist vergeblich, uns ihnen widersetzen zu wollen.
    Auf Jaime, der alle seine Vorfahren kannte, auch die Geschichte von allem, was ihn umgab, lastete um so schwerer die Tyrannei der Vergangenheit.
    Von jedem seiner Vorfahren war etwas in ihm lebendig. Das erklärte auch die Abneigung, die er im Verkehr mit dem ehrerbietigen und demütigen Don Benito empfand. Solche Gefühle waren unüberwindlich. Er konnte nicht gegen seine eigene Natur kämpfen. Andere, stärker als er, widersetzten sich: die Toten befahlen. Man mußte gehorchen.
    Er verzichtete also auf diese Heirat, seine einzige Rettung! Sobald seine Gläubiger von diesem Entschluß, der alle ihre Hoffnungen zuschanden machte, erfahren würden, war der Zusammenbruch unvermeidbar.Das Haus seiner Väter würde man ihm nehmen. Was tun? Wohin gehen?
    Febrer verließ die Terrasse, und ohne es zu wissen, lenkte er seine Schritte zur Hauskapelle. Spinngewebe zerrissen, und eine Staubwolke senkte sich herab, als die Tür sich kreischend in ihren rostigen Angeln drehte. Wie

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