Die Toten der Villa Triste
Kammer, ihre Handtasche unter dem Arm.
Ich will ganz ehrlich sein, ich weiß nicht, ob ich sie wirklich stehlen wollte. Ich weiß nicht, was ich damit vorhatte. Vielleicht wollte ich ihre Habseligkeiten in meinem Stationsbuch auflisten. Doch dann kam mir der Gedanke, dass das sinnlos war, denn sie hatte keine Angehörigen mehr. All ihre Verwandten waren bei dem Bombenangriff auf Genua ums Leben gekommen. Ich wusste, wie alt sie waren, wie sie hießen, als was sie gearbeitet hatten. Und ich wusste, dass sie alle tot waren. Darum behielt ich die Handtasche. Ich redete mir ein, dass Donata mir die Handtasche ohnehin geschenkt hätte. Und so schob ich sie unter das Kopfkissen auf meiner Pritsche.
Als ich an jenem Abend nach Hause kam, war Issa auch dort. Aus ihr und Papa sprudelten die Neuigkeiten nur so heraus – achtzehn jener neunzehn Mitglieder des Faschistischen Großrates, die im vergangenen Sommer für die Absetzung Mussolinis gestimmt hatten, waren nach einem Schauprozess in Verona hingerichtet worden. Noch mehr Männer, die für ihre Tapferkeit gefeiert worden waren und das mit dem Leben bezahlt hatten. Unsere Morgendämmerung hatte nicht lange angehalten.
Mama sagte nichts dazu, und ich wollte auch nicht darüber reden, darum dauerte es bis nach dem Essen, bevor Issa mich zur Seite zog und mir erklärte, dass das Funkgerät eingetroffen war. Sie nahm mich mit auf ihr Zimmer und zeigte es mir.
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, als ich es sah. Schließlich murmelte ich: »Ich weiß nicht, wie du mit diesem Ding unter deinem Bett schlafen kannst. Das ist, als würdest du auf einer Bombe schlafen.«
Und zu meiner Überraschung nickte Issa.
»Ich will es auch nicht hierhaben.« Sie lachte, aber ich sah ihr an, dass sie das nicht komisch fand. Dann sagte sie: »Du hattest recht. Mama und Papa mögen zwar behaupten, dass sie helfen wollen, trotzdem ist es zu gefährlich. Ich weiß nur nicht, wo ich es stattdessen hinbringen soll.« Sie seufzte. »Ihnen kann ich wenigstens trauen.«
Ich sah sie prüfend an. Unter ihren Augen lagen dunkle Ringe, und ihre Wangen waren eingefallener als bei unserer letzten Begegnung. Vielleicht hatte es etwas mit Donata zu tun, doch ich spürte, wie mich heiße Angst durchbohrte. In einem grellen Stich, fast wie ein Blitz. Erst in diesem Augenblick ging mir auf, wie sehr ich mich immer darauf verlassen hatte, dass Issa stärker war als ich. Stärker als wir alle.
»Du siehst müde aus.« Ich setzte mich neben sie.
»Wir haben viel gestritten.« Sie lächelte, aber auch diesmal wirkte ihr Lächeln unecht. »Die Männer streiten andauernd, seit sie in der Stadt festsitzen. Ich will zurück in die Berge. Aber das wäre Irrsinn, solange der Schnee nicht geschmolzen ist, und das hier?«, sie beugte sich vor und tätschelte die Kiste, »Das hier ist wichtiger. Es wird bald etwas geschehen.« Sie sah mich an. »Ich weiß zwar nicht, was, aber die Amerikaner haben etwas angedeutet. Es ist bald so weit.«
Sie hatte recht. Etwas lag in der Luft. Wir alle konnten es spüren. Die Bombenangriffe waren heftiger geworden. Livorno war praktisch zerstört, und überall wurden die Bahngleise beschossen. Inzwischen schienen die Alliierten genauer zu zielen, denn die Nachschublinien waren schwer getroffen. Auch darum waren die Lebensmittel so teuer geworden.
Aber mich beschäftigte etwas anderes. Ich zerbrach mir den Kopf über ihre Bemerkung, wem sie alles nicht trauen konnte. Ich wollte sie nach den Streitereien fragen, aber ehe ich dazu Gelegenheit bekam, sagte sie: »Du musst anfangen, dir alles einzuprägen, Cati.« Sie drückte meine Hand. »Du musst anfangen, dir alles einzuprägen, was du siehst. Und alles zu zählen.«
Wie die Tropfen, dachte ich. Wie die zäh dahintropfende Zeit, die ich während der letzten Anprobe meines Hochzeitskleids gezählt hatte. Damals hatte ich das Zählen, allerdings vergebens, unterbinden wollen, weil im Krankenhaus nur die Hysterikerinnen ständig zählten – sie gingen händeringend auf und ab und zählten Stufen, Krankenschwestern, Betten, Fenster. Sie zählten die Schritte in den Wahnsinn. Jetzt bekam ich den Befehl, absichtlich eine von ihnen zu werden – meinen Verstand aufzugeben, für die Alliierten. Enrico würde natürlich sagen, das sei meine Pflicht.
Ich hätte fast aufgelacht und Issa von meinen Ängsten erzählt, aber sie war schon aufgestanden, streckte sich und fuhr sich mit den Händen durchs Haar.
»Papa muss mir helfen«, sagte
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