Die Toten der Villa Triste
stehlen, Signora. Aber haben Sie jemals Berichte oder Geschichten über eine Gestalt namens Il Spettro gehört?«
Noch während er das sagte, begann sie zu lächeln.
»Ach, Ispettore«, sagte sie. »Da hat Sie jemand zum Besten gehalten. Diese alten Räuberpistolen über den geheimnisvollen Rächer von Florenz.«
»Das ist leider gut möglich«, bekannte er. »Sie glauben demnach nicht, dass irgendetwas an diesen Geschichten dran ist?«
Sie lächelte. »Nein. Es tut mir leid. Jeder liebt Geschichten. Vor allem, wenn sie spannend sind, nicht wahr? Aber nein …« Sie schüttelte den Kopf. »Vielleicht ist das der Zynismus des Alters. Vielleicht«, schränkte sie ein, »glaube ich auch lieber an wahre Helden. Es gab damals viele Helden, müssen Sie wissen. Und die meisten von ihnen vollbrachten außergewöhnliche Dinge. Aber für mich war und bleibt das Außergewöhnlichste daran, dass sie allesamt erschreckend gewöhnliche Männer und Frauen waren.«
»Bitte entschuldigen Sie«, sagte er. »Das hätte mir klar sein müssen. Die Quelle war nicht besonders zuverlässig.«
»Nun, das sind die wenigsten. Ganz besonders, wenn es sich um den Krieg dreht. Das liegt in der menschlichen Natur. Jeder möchte sich selbst als Helden im Gedächtnis behalten. Ich weiß zum Beispiel, dass man vor dem sechzigsten Jahrestag große Schwierigkeiten hatte, all die Geschichten zu verifizieren, die mit einem Orden belohnt werden sollten.«
»Hatten Sie damit zu tun?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Wie gesagt, wir widmen uns vor allem den noch lebenden Angehörigen. Und den Gedenkstätten hier in der Stadt. Natürlich waren wir zu den Feierlichkeiten eingeladen. Cosimo wäre für sein Leben gern hingefahren. Aber damals war er schon zu krank. Letztendlich verfolgten wir die Feier im Fernsehen, so wie fast das ganze Land.«
Pallioti nickte. Signora Grandolo war entschieden zu höflich, um nervös zu werden oder auf die Uhr zu blicken, aber ihm war klar, dass er ihre Zeit stahl. Er hatte ihre Freundlichkeit bereits überstrapaziert.
»Signora«, verabschiedete er sich. »Vielen Dank. Für Ihre Hilfsbereitschaft.«
Sie sah lächelnd zu, wie er aufstand. »Es war mir ein Vergnügen.« Sie erhob sich ebenfalls und kam hinter ihrem Schreibtisch hervor. »Ich hoffe, Sie zögern nicht zu fragen, falls ich irgendwann noch einmal etwas für Sie tun kann. Wie gesagt, das ist mein persönliches Hobby. Bitte.« Sie überreichte ihm die Unterlagen, die sie über Giovanni Trantemento zusammengestellt hatten. »Meine Karte liegt bei. Mit meiner Durchwahl. Falls ich irgendwie helfen kann.«
»Danke.«
Ihre Hand war weich und fest; ihr Händedruck unerwartet kräftig.
»Es ist sonst nicht meine Art, Polizisten zu ermahnen«, sagte sie und lächelte. »Aber ich bin eine alte Frau, und Sie sind jung genug, um mein Sohn zu sein. Also ein Wort – sobald es um den Krieg geht, schwimmen plötzlich verdächtig viele große Fische im Teich. Mich hat die lebenslange Erfahrung gelehrt, dass besonders große Geschichten oft einen faulen Kern haben.«
Er seufzte. »Da haben Sie bestimmt recht. Gestern Abend habe ich so eine gehört.«
»Neben der über Il Spettro?«
»Genau. Etwas über eine Belohnung für jeden verratenen Partisan. Jemand hat mir erzählt, dass man dafür fünf Pfund Salz bekam.«
Sie hielt immer noch seine Hand. Ihre Augen blickten ihn an.
»Das war leider keine faule Geschichte.«
»Sie meinen, das ist wahr?«
Sie nickte. »O ja. Kaum vorzustellen, nicht wahr? In der Stadt von Botticelli und Michelangelo. Obszön. Aber ich fürchte, vor sechzig Jahren betrachteten viele das als angemessenen Preis für ein Menschenleben.«
15. Kapitel
13. März 1944
Es ist schwer zu beschreiben, was für eine Stimmung mittlerweile herrscht. Am ehesten kommt mir die Stadt wie eine magische Kammer vor, die kleiner und kleiner wird – bis wir irgendwann aufeinandergepresst werden und grausam und hektisch um uns beißen wie gefangene Tiere. Wir raufen um Brotkrumen und Benzintropfen, während wir zugleich für die Fascisti und die Nazis, die Stabsoffiziere und die SS-Leute die groteske Parodie eines normalen Lebens aufführen. Die Restaurants sind geöffnet. Die Cafés sind hell erleuchtet, und der Sekt fließt. Wir haben sogar eine »Theatersaison«. Und die Verhaftungen nehmen kein Ende.
Jeder weiß etwas über die Verschwundenen. Und so läuft es ab.
Sie schicken dir keine Nachricht. Niemand warnt dich. Du willst dich mit jemandem
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