Die Toten der Villa Triste
treffen, oder du wartest zu Hause – du kochst oder flickst gerade einen Pullover, du willst dich mit dem Betreffenden streiten oder dich bei ihm entschuldigen oder ihm sagen, dass du ihn liebst. Und du wartest und wartest und wartest. Das ist alles. Nichts. Nur Leere, wo eben noch dein Mann oder dein Kind, deine Frau oder dein Geliebter oder deine Freundin war.
Wir haben alle schon von Verwandten gehört, meist Frauen, die ihre besten Kleider angelegt und sich auf den Weg ins Café Paskowski oder ins Excelsior gemacht haben, um sich den Offizieren und den Gestapo-Männern in ihren schwarzen Anzügen zu Füßen zu werfen. Um sich an sie zu schmiegen und ihnen in ihrer Verzweiflung Geldbündel, Schmuck, kleine Zettel mit einem gekritzelten Namen in die Tasche zu stecken. Manche gehen zur Questura. Andere warten auf der Straße vor der Villa Triste, bis sie weggejagt werden. Der deutsche Konsul, Herr Wolf, soll mitfühlend sein. Unter den richtigen Umständen.
Gleichzeitig hören wir geflüsterte Gerüchte über Spitzel, wir hören ab und zu Schüsse und ignorieren die Sirenen, wenn sie losgehen, wir verfluchen die Alliierten für die Schuttberge, die überall in der Stadt zum Himmel wachsen, während wir gleichzeitig ihr Eintreffen herbeisehnen, wir fragen uns ängstlich, was wohl alles passieren wird, bevor sie eintreffen, und noch ängstlicher, was passiert, falls sie nicht kommen.
Die GAP werfen weiter Granaten und verstecken Pamphlete in Speisekarten und Bibeln, aber niemand spricht mehr von Triumph, von Freiheit oder Idealen. Stattdessen senken wir still die Köpfe – wir beschränken unsere Zeit auf den nächsten Tag, auf die nächste Stunde – und kämpfen weiter. Nicht weil wir mit Inspiration und Hoffnung erfüllt wären, sondern weil wir keine Wahl haben. Weil die Alternative der Tod wäre.
Und jeder von uns möchte stolz auf sich sein, falls der Tod eines Tages tatsächlich kommt. Aber in diesen Zeiten ist das unwahrscheinlich. Trotzdem geben wir unser Bestes. Darum ist dieses Buch, sind diese Worte eine Art Buße, wie ich schon geschrieben habe. Und da das so ist, werde ich auch über den Valentinstag schreiben. Weil dies der Tag war, an dem Issa niedergeschossen wurde.
An diesem Morgen war die Dämmerung so verletzlich wie das Innere einer Muschel. Es war bitterkalt gewesen. Der Fluss war weiß vor Kälte. Eine Haut aus Eis, bestäubt mit Schnee, überzog das Wasser. An manchen Stellen war sie geplatzt, und schwarze Strudel waren zu sehen. Ich hatte fast die ganze Nacht gearbeitet und war nur kurz nach draußen gegangen, um wieder zu Atem zu kommen, um auf meinem Gesicht wieder Luft zu spüren, der nicht der klebrige Geruch der Krankheit anhaftete. Außerdem wollte ich für mich allein sein, damit ich an Lodovico denken konnte. Ich habe gemerkt, dass mir das zu Hause oder im Krankenhaus nicht mehr möglich ist. Stattdessen haste ich einsam durch die Stadt, wenn ich wieder einmal am Ende meiner Kräfte bin und es nicht mehr ertrage, ihn nicht heraufzubeschwören, wenn ich wie eine Süchtige nach den gemeinsamen Erinnerungen lechze. Manchmal kann ich auf diese Weise sogar dem Menschen entfliehen, der ich inzwischen geworden bin, und in meinen Gedanken als das Mädchen mit ihm zusammen sein, das ich früher war. Es sind flüchtige Momente, muss ich zugeben. Aber alles in allem besser als Träume. Selbst wenn ich ihn nie wiedersehen oder nie wieder von ihm hören sollte, bin ich entschlossen, fest zu glauben, dass er noch am Leben ist, so als könnte ich ihn dadurch, dass ich ihn essend, atmend, lachend vor mir sehe, am Leben erhalten. Obwohl ich natürlich weiß, dass das Unfug ist. Was ich denke, zählt nicht. Genauso wenig, wie es zählt, was ich mir wünsche. Diese riesige Kriegsmaschine überrollt uns, ohne dass es etwas zur Sache täte, was wir glauben oder wünschen.
Es war eisig kalt auf der Brücke. Ich spähte über die Brüstung und dachte an die Fische, die ruhig unter dem Eis abwarteten und deren Welt unberührt geblieben war. Und dann fragte ich mich, ob die Fische es überhaupt merken werden, wenn sie die Brücken in die Luft jagen, wenn die Alliierten endlich einmarschieren und wir erleben, was Zerstörung wirklich bedeutet, wenn die Trinità und die Carraia und die Ponte alle Grazie einstürzen. Hoffentlich nicht. Auf dem Rückweg zum Krankenhaus hoffte ich, dass wenigstens die Fische vom Krieg verschont bleiben würden.
Den ganzen Tag über musste ich immer wieder an sie denken.
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