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Die Toten der Villa Triste

Die Toten der Villa Triste

Titel: Die Toten der Villa Triste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucretia Grindle
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Auch abends dachte ich noch an sie – an ihr Leben in der Dunkelheit und ihre offenen Münder –, als ich meine Schicht überstanden hatte und schließlich den Weg zu meinem Kämmerchen einschlug. Ich trug ein Bündel Kleider bei mir, die Ausbeute des heutigen Tages. Keine Schlüssel, keine brauchbaren Papiere, dafür mehrere Paar Socken. Die noch brauchbaren Stiefel eines Siebzehnjährigen, der von der Banda Carita niedergeknüppelt und vor dem Krankenhaus abgeladen worden war, damit sein Tod in unseren Büchern und nicht in ihren verzeichnet wurde. Ein Schal.
    Es herrschte ungewohnte Ruhe, und nach der vergangenen Nacht, in der ich kein Auge zugetan hatte, glaubte ich, endlich ein, zwei Stunden Schlaf finden zu können. Ich zog an dem Band um meinen Hals, um den Schlüssel hervorzuholen, als ich spürte, dass etwas nicht stimmte. Meine Tür war zugezogen, doch ich meinte, dahinter etwas oder jemanden gehört zu haben, und ich war im wahrsten Sinn todsicher, dass jetzt alles aus war – dass man mich endlich erwischt hatte, dass mich hinter der Tür die Oberschwester erwarten würde, die meine Vorratsschachteln ausgekippt hatte, wo ich erst am Vortag zwei Lebensmittelkarten und einen Satz Dokumente versteckt hatte. Meine Hände zitterten, trotzdem war ich beinahe erleichtert, als ich schließlich die Tür aufstieß.
    Eigentlich hätte ich längst mit dem Anblick rechnen müssen, der sich mir bot, trotzdem stockte mir der Atem. Es ist nicht so, als hätte ich nicht oft genug mit Verwundeten zu tun. Weiß Gott. Nur waren sie bis dahin immer Fremde gewesen. Keiner von ihnen hatte ein Gesicht gehabt, das ich liebte.
    Issa saß zusammengekauert auf meiner Pritsche, in ihren Mantel gehüllt – ihren besten Mantel, den schwarzen mit dem Pelzkragen. Was alles nur noch schlimmer machte, weil sie darüber umso bleicher aussah.
    »Issa! Um Gottes willen!«
    Ich ließ alles fallen und stürzte auf sie zu, doch sie presste den Finger auf die Lippen und deutete auf die Tür. Ich schloss sie hinter mir und starrte Issa an.
    »Was ist denn los?«, wollte ich wissen. »Was ist passiert?«
    Als ich zu ihr trat, sah ich, dass der Ärmel und die Schulter des Mantels zerfetzt waren, zerrissen und dunkel, wo Blut durch die dicke Wolle gesickert war und den Pelz durchtränkt hatte.
    »Ich bin vor ein Auto gelaufen.«
    Noch während sie die Worte aussprach, begriff ich, dass sie log. Und ich begriff es noch einmal, als ich sie berührte. Unter meinen Fingern fühlte es sich klebrig und warm, schwammig und weich an. Schließlich ließ sie es zu, dass ich den Mantel zurückschälte. Zahllose Male habe ich das im letzten halben Jahr gemacht. Ich weiß, wie eine Schusswunde aussieht.
    »Was ist passiert?«
    Ich brauchte ein paar Sekunden, um zu erkennen, dass sie sich fein gemacht hatte. Ihre schwarzen Wildlederschuhe waren durchnässt und ruiniert. Dazu hatte sie ihren schwarzen Rock, eine Seidenbluse und den Mantel an.
    »Was ist denn passiert?«, fragte ich wieder.
    Aber noch bevor ich die Frage ausgesprochen hatte, wusste ich, dass sie zu nichts führen würde. »Ich weiß nichts. Ich weiß nichts. Ich weiß nichts.« Wir halten uns an dieser Litanei fest wie an einem Gebet, aber in jenem Augenblick wurde mir klar, dass ich nicht mehr weiß, wozu sie dienen soll – wen sie beschützt und wen nicht. Ich weiß nur, dass jeder von uns in einer eigenen kleinen Muschel aus ängstlichem Schweigen lebt.
    »Mach schon«, sagte ich. »Du musst das ausziehen.«
    Ich hatte Angst, dass sie schwer verletzt sein könnte, dass der Knochen gesplittert sein könnte oder die Kugel noch im Fleisch steckte. Aber sie hatte ungeheures Glück gehabt. Es war eine widerwärtige Fleischwunde, und Issa hatte viel Blut verloren. Aber das war alles, es war nur eine Wunde. Eine Handbreit näher am Rückgrat, und alles hätte ganz anders ausgesehen.
    »Du warst bei den GAP«, murmelte ich. »Nicht wahr?« Aber ich hätte genauso gut gegen eine Wand sprechen können. Selbst als ich das aufgerissene Fleisch zur Seite zog und säuberte, gab sie keinen Mucks von sich.
    Ich gab ihr Morphin. Dann steckte ich eine Decke um sie fest, setzte mich auf den Schreibstuhl und sah zu, wie sie auf meiner Pritsche einschlief und im Schlaf mit den Fingern zuckte. Ich wartete bis Mitternacht. Dann sammelte ich ihre Kleider ein und trug sie nach unten zum Verbrennungsofen.
    Ich wusste, dass Issa Schmerzen hatte, als sie am nächsten Morgen aufwachte, aber auch diesmal wollte sie mir

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