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Die Toten der Villa Triste

Die Toten der Villa Triste

Titel: Die Toten der Villa Triste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucretia Grindle
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nicht erzählen, was vorgefallen war. Sie hatte mich schon öfter besucht, darum hielt ich es für klüger, nicht so zu tun, als wäre sie nicht da, auch wenn ich niemandem erzählte, was ihr zugestoßen war. Ich ging meiner Arbeit nach und legte mir für den Fall, dass mich jemand fragen sollte, die Ausrede zurecht, dass die Wohnung, in der sie zurzeit lebte, von einer Bombe getroffen worden sei. Aber niemand fragte. Niemand stellt noch Fragen. Wir wenden den Blick ab und hasten weiter, immer geschäftig und ohne nach links und rechts zu sehen.
    Am Nachmittag des dritten Tages kehrte allmählich etwas Farbe in ihre Wangen zurück. Das Fieber war zurückgegangen, und sie war hungrig. Ich fand ein paar Anziehsachen für sie. Sie hatte um eine Männerhose und eine Jacke gebeten. Ich weiß nicht, ob ihr die Stiefel des Jungen passen, aber sie hat sie angezogen. Als ich an jenem Abend nach meiner Runde zurückkam, saß sie auf meinem Stuhl am Schreibtisch.
    »Cati«, sagte sie. »Du musst mir die Haare schneiden.«
    Ich weiß nicht, warum, aber von allem, was sie seit vergangenem September erbeten oder getan hat, schockierte mich das – diese alberne Kleinigkeit – am meisten. Offenbar sah sie mir mein Entsetzen an, denn sie lachte. Sie krümmte sich dabei zusammen und hatte Tränen in den Augen vor Schmerzen, aber sie lachte trotzdem.
    »Das ändert gar nichts«, sagte sie. »Das verändert mich nicht.«
    Ich nickte und murmelte, dass sie natürlich recht hatte. Denn, so erkannte ich, wir hatten uns schon so verändert, dass es nichts mehr ausmachte.
    Am nächsten Nachmittag verschwand sie. Carlo kam sie abholen. Er wartete im Fahrradschuppen. Ich weiß nicht, wie gefährlich es für ihn war, dort aufzutauchen, wahrscheinlich ungeheuer. Meine Gedanken sind bei ihm. Ich will mich nicht darauf verlassen, dass Issa auf sich aufpasst, und er traut ihr auch nicht, wie ich ihm ansehen konnte. Er nahm sie in die Arme. Falls es ihn erschreckte, sie mit kurz geschnittenen Haaren und in Männersachen zu sehen, ließ er sich das nicht anmerken. Auch er hat sich verändert, seit ich ihn das letzte Mal gesehen habe, damals im Herbst, der so lange zurückzuliegen scheint. Er ist immer noch schön wie ein Erzengel, seine Haare sind immer noch golden und seine Augen hell wie die einer braunen Katze. Und er lächelt immer noch. Aber er ist kein Junge mehr. In seinem Gesicht hat sich etwas verändert. Inzwischen strahlt er etwas Hartes aus.
    »Gott sei Dank ist dir nichts Schlimmeres passiert.« Er drückte Issa an seine Brust und küsste sie auf den Scheitel. Dann streckte er die Hand aus und umarmte auch mich. Er zog mich zu sich her, bis wir zu dritt eng umschlungen dastanden.
    »Gott segne dich«, sagte er. »Er segne dich für alles, was du getan hast. Und dafür, dass du sie gepflegt hast.«
    Ich erklärte ihm, dass ich nicht viel getan hatte, aber seine freundlichen Worte rührten mich so, dass ich mich für meine frühere Eifersucht schämte. Inzwischen bin ich einfach froh, dass Issa einen Schutzengel hat, der über sie wacht. Bevor sie gingen, warnte ich sie beide, dass sich der Arm infizieren und sie sterben könnte, wenn sie nicht aufpassten. Beide versprachen, dass Issa bald wiederkommen und die Wunde von mir untersuchen lassen würde.
    Aber wann das sein würde, stand in den Sternen. Darum wagte ich es nicht mehr, das Krankenhaus zu verlassen, aus lauter Angst, sie könnte vorbeikommen, während ich nicht hier war. Unser Telefon funktioniert gelegentlich immer noch, was eine Gnade ist – weil sich dadurch Mama und Papa weniger Sorgen machen müssen, aber auch weil ich inzwischen wohl besser lügen kann, ihnen aber immer noch nicht in die Augen sehen und verschweigen könnte, was vorgefallen ist. Darum war es besser, nicht nach Hause zu gehen.
    Ich machte es mir zur festen Angewohnheit, jeden Abend und manchmal auch kurz nach der Morgendämmerung zu dem Schuppen zu gehen, in dem die Fahrräder abgestellt werden und wo der Gärtner seine Geräte aufbewahrt. Immer hatte ich meinen Rucksack dabei, hantierte dann an den Reifen oder dem Gepäckträger herum, um Issa Gelegenheit zu geben, mich zu treffen. Fast eine Woche lang ließ sie auf sich warten. Dann, eines Abends, war sie da.
    Sie war allein, und im ersten Moment hätte ich sie beinahe nicht erkannt. Sie hatte ihr Haar mit Henna gefärbt und trug wieder Männersachen. Aber es war nicht nur das – das Haar und die Kleidung. Sie bewegte sich inzwischen anders, sie ging

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