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Die Toten der Villa Triste

Die Toten der Villa Triste

Titel: Die Toten der Villa Triste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucretia Grindle
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entfernt. Als sie parkten, folgte Signora Grandolo seinem Blick und nickte.
    »Sie waren effizient«, sagte sie. »Das muss man ihnen lassen. Nur ein paar Minuten zu Fuß. Kaum eine Chance, zu fliehen, bevor sie in die Züge gestopft wurden.«
    Sie stellte den Motor ab und sah auf die Schule.
    »Die Schule wurde damals übrigens bombardiert«, sagte sie. »Wie fast die gesamte Gegend. Sie war zu der Zeit nicht ganz voll. Aber über hundert Menschen wurden getötet.«
    Sie öffnete ihre Tür. Pallioti stieg ebenfalls aus. Er nahm den Karton vom Rücksitz und folgte ihr durch das Tor auf den gepflasterten Schulhof. Die hässlichen Fenster im Eisenrahmen waren gegen die Kälte fest geschlossen. Trotzdem konnten sie die Kinder dahinter hören, das Rufen und Zwitschern der Stimmen.
    Die Gedenkstätte bestand aus einer schlichten Marmorsäule von einem Meter Höhe, die neben dem Haupteingang auf einem grauen Steinsockel stand. Als sie näher kamen, erkannte Pallioti, dass sie beschriftet war.
    In Erinnerung an jene, die von hier deportiert wurden
    und niemals zurückkehrten.
    Märtyrer im Kampf um die Freiheit gegen die faschistische und nationalsozialistische Tyrannei.
    Wir werden sie nicht vergessen.
    Das Liliengesteck davor war verwelkt und tot.
    Pallioti bückte sich und hob das verblichene Gebinde auf. Strahlend gelbe Pollen bestäubten den grauen Marmor und seinen Mantelärmel. Er verfolgte, wie Signora Grandolo den weißen Karton öffnete und ein neues Arrangement aus blassrosa Lilien heraushob. Sie fegte ein totes Blatt beiseite und legte die Blumen behutsam am Fuß des Denkmals ab. Dann trat sie zurück.
    »Bis morgen ist wahrscheinlich die Hälfte davon verblüht.«
    Sie nahm Pallioti das alte Gebinde ab, legte es in den Karton und setzte den Deckel darauf.
    »Aber«, meinte sie dann, »wenigstens beschmieren sie das Denkmal nicht. Oder sie haben es bislang nicht beschmiert. Noch nicht. Meiner Meinung nach«, sagte sie, »hätte man eigentlich die Namen aller, die hier vorbeigetrieben wurden, in die Säule gravieren sollen. Ich hätte es gut gefunden, wenn die Kinder das gesehen hätten – Namen genau wie ihre, selbst wenn sie nur zweimal am Tag daran vorbeigegangen wären. Aber das konnten wir natürlich nicht. Dafür waren es zu viele.« Sie sah Pallioti an. »Eines ist besonders pervers – jedenfalls für mich: dass sie so genau Buch geführt haben. Sie haben jeden Einzelnen verzeichnet, der ins Gefängnis musste oder wieder freikam oder der in die Villa Triste gebracht wurde. So hieß damals für uns das Hauptquartier der SS. Natürlich«, ergänzte sie dann, »kam niemand je aus der Villa Triste frei. Wer sie wieder verließ, wurde hinausgeführt oder -getragen.«
    Hinter ihnen schob ein gehetzt wirkender Mann ein Fahrrad durchs Tor. Er nickte ihnen zu, bevor er den Rahmen an den Ständer neben der großen Glastür kettete und anschließend das Vorderrad und so viele weitere Teile abmontierte, dass zuletzt nur ein Gerippe übrig blieb.
    »Wirklich, eigentlich müssten wir ihnen dankbar sein«, fuhr Signora Grandolo fort. Sie drückte den Deckel auf den Karton und zuckte mit den Achseln. »Den Nazis. Dafür, dass sie so genau verzeichnet haben, wen sie umbrachten. Ohne sie wären wir hoffnungslos verloren gewesen.« Sie ging zum Wagen zurück. Pallioti hielt ihr das Tor offen.
    »Sind viele verloren gegangen?«, fragte er. Dann ging ihm auf, dass das eine dumme Frage war. Woher sollte jemand wissen, wie viele verloren gegangen waren? Roberto Roblino beispielsweise.
    Sie sah ihn an, klappte die Kofferraumhaube des Mercedes auf und legte den Karton hinein.
    »Überraschend wenige«, sagte sie. »Sie machten kaum Fehler. Die SS. Oder auch die Faschisten, wo wir schon dabei sind. Kaum jemand wurde falsch zugeordnet.« Dann lächelte sie. »Wenigstens soweit wir wissen. Wenn allerdings jemand falsch zugeordnet worden wäre …«
    »… und Sie davon wüssten, wäre er nicht verloren gegangen.«
    »O ja.« Signora Grandolo lächelte ihn über das Dach des Wagens hinweg an und öffnete die Fahrertür. »Der Bürgermeister hat mich gewarnt, Dottore«, sagte sie. »Sie haben wirklich nicht nur ein hübsches Gesicht.«
    Die kleine Straße, auf der sie aus der Stadt fuhren, schlängelte sich in die Berge hinauf. Die Wohnhäuser wichen kleinen Einfamilienhäusern und diese wiederum lichten Wäldern. Anders als die Hügel in Richtung Fiesole oder Settignano oder Arcetri, wo Saffy wohnte, war diese Gegend keineswegs

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