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Die Toten der Villa Triste

Die Toten der Villa Triste

Titel: Die Toten der Villa Triste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucretia Grindle
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getrampelt, hätte sich durch Stein und Backstein gefressen und alles in seinem Weg ausgelöscht. Wir bildeten einen Ring um die Frauen und schlossen dabei die Frauen aus, denen wir nicht trauen, jene, die für die Deutschen das Essen austeilen, während die Neuen uns leise offenbarten, dass die Alliierten irgendwo südlich von Siena standen, dass die Front sich langsam vorwärtsbewegte, dass die Deutschen nur unter schweren Kämpfen zurückgedrängt werden konnten. Es gab blutige Schlachten. Und schlimme Geschichten. Am meisten fürchten alle die Division Hermann Göring, dazu die Waffen-SS und die Fallschirmjäger. Frauen und Kinder wurden wie Schafe zusammengetrieben und erschossen. Leichen wurden an Laternenmasten aufgehängt. Ein halbes Dorf, das in der Kirche Schutz gesucht hatte, war bei lebendigem Leibe verbrannt worden.
    Selbst als die Neuen schließlich verstummten, wollten wir sie nicht alleine lassen. Sie mussten alles ein zweites Mal erzählen. Wir pickten auf sie ein wie Hennen, die nach einem Körnchen Neuigkeit suchen.
    Issa hielt sich abseits. Sie lag auf ihrer Pritsche und blinzelte nur, als ich ihr schilderte, was ich gehört hatte.
    Zwei Tage ging das so, bis ich schließlich begriff – und als ich begriff, schämte ich mich ungeheuer. Ich hatte nicht sehen wollen, was mir unübersehbar vor Augen stand. Und was ich hätte sehen müssen. Weil ich es schon einmal gesehen hatte.
    Im letzten Winter im Krankenhaus gab es immer mehr Menschen, meist Frauen, die auf einmal nicht mehr essen wollten. Die nur noch dasaßen und ins Leere starrten. Oder die ihre Arme um die Beine geschlungen hatten und sich hin- und herwiegten. Anfangs versuchten wir, sie zu bewegen, wir zogen sie hoch und zwangen sie, im Flur auf und ab oder den Kreuzgang entlangzugehen. Manche erholten sich wieder. Manche begannen sich umzusehen, Fragen zu stellen oder zu antworten, nach einem Löffel oder einem Glas Wasser zu greifen. Andere nicht. Und schließlich ließ die Oberschwester sie verlegen. Wir mussten in einem vollgepferchten kleinen Zimmer Betten aufstellen, hinter geschlossenen Türen, wo niemand diese Frauen sehen konnte. Als ich zusammen mit einer anderen Schwester protestierte, hörte die Oberschwester uns an. Dann richtete sie ihre kleinen dunklen Augen auf uns und fragte, was wir für gefährlicher hielten. Die Deutschen, die Grippe oder die Verzweiflung?
    Sie sah uns nacheinander an. »Sie sind zu jung, um das zu verstehen«, sagte sie scheinbar ungerührt. »Aber die Verzweiflung tötet am schnellsten. Sicherer als die Grippe. Und unwiderruflicher als eine Kugel. Und sie ist ansteckend. Äußerst ansteckend.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß, Sie halten mich für grausam. Sie glauben, ich sei von Gott abgefallen. Aber ich kann nicht hinnehmen, dass sich meine Patienten mit Hoffnungslosigkeit infizieren.«
    Also wurden die Frauen weggeschlossen, wo niemand sie sehen konnte. Unter uns nannten wir ihr Zimmer corsia degli perduti . Die Station der Verlorenen.
    Jetzt sah ich Issa an und entdeckte, was ich schon längst hätte bemerken sollen.
    An diesem Abend gab es Suppe. Kohl und winzige Kartoffelstückchen schwammen darin, und sie war sogar warm. Ich musste lange anstehen, und ich konnte mir nur eine einzige Schale füllen lassen. Die Frau mit dem Schöpfer sah mich nicht an, ihre Augen schauten ins Leere, und so goss sie die Suppe halb über meine Hand und über den Schüsselrand. Ich drehte mich um, dann blieb ich stehen und leckte meinen Handrücken ab. Ich sah auf die Suppe in meiner Schüssel. Drei Schlucke, und ich hätte alles ausgetrunken. Issa wäre es egal. Sie wollte sowieso keine Suppe. Ich holte tief Luft, dann nahm ich die Schüssel in beide Hände und ging zu ihr zurück.
    Sie saß auf einer Seite ihrer Pritsche und starrte ins Nichts. Ich setzte mich neben sie.
    »Hier«, sagte ich. »Sie ist gut. Und sogar noch warm.«
    Sie rührte sich nicht.
    »Bitte nimm, Issa. Bitte.« Ich hörte die Tränen in meiner Stimme. »Wenn du nichts isst, stirbst du«, hauchte ich.
    Sie drehte sich um und sah mich an. »Gut«, sagte sie.
    Da ohrfeigte ich sie.
    Die Suppe ergoss sich über die Matratze. Die Schüssel fiel klappernd zu Boden. Meine Handfläche traf so fest auf ihrer Wange auf, dass ihr Kopf zur Seite ruckte.
    »Hör auf damit!« Ich sprang auf. »Du bist der selbstsüchtigste Mensch, der je gelebt hat! Ich wollte nie eine Heldin sein, Issa«, fuhr ich sie an. »Ich habe das alles nur deinetwegen getan.

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