Die Toten der Villa Triste
Weil du mich darum gebeten hast. Nur deinetwegen bin ich hier, und du willst dir nicht einmal Mühe geben zu überleben. Du hast doch alles!« Ich beugte mich so dicht über sie, dass sich unsere Nasen beinahe berührten. »Du bekommst ein Kind«, zischte ich. »Glaubst du nicht, dass ich meinen linken Arm, mein Leben dafür geben würde, Lodovicos Kind in meinem Bauch zu tragen?«
Sie starrte mich mit großen Augen an, aber ich konnte mich nicht länger beherrschen.
»Carlo ist gestorben«, fauchte ich. »Ja. Aber du hattest wenigstens Gelegenheit, mit ihm zusammen zu sein. Und er hat alles getan, was er nur konnte, damit du überlebst. Wer hat ihnen wohl erzählt, dass du schwanger bist? Und so dankst du es ihm? Indem du sein Kind sterben lässt? Er hat dir das Leben gerettet, Issa. Du weißt überhaupt nicht, was Liebe ist!«
Ich drehte mich wütend um, aber sie bekam meine Haare zu fassen. Selbst halb verhungert, selbst in ihrer tiefsten Verzweiflung war Issa stärker und schneller als ich. Sie riss meinen Kopf nach hinten. Sie hatte schon ausgeholt und wollte mir gerade das Gesicht zerkratzen, als zwei andere Frauen uns trennten.
»Um Gottes willen, um Gottes willen. Ihr bringt uns noch alle in Schwierigkeiten! Schluss damit!«
Ich schlotterte am ganzen Leib. Tränen flossen mir übers Gesicht. Eine der Frauen legte den Arm um mich und zog mich weg. Als ich mich umdrehte, sah ich, wie jemand anderes die Schüssel umdrehte und sich das Kartoffelstückchen schnappte.
Die ganze Nacht über lag Issa eingerollt wie in einem Schneckenhaus unter ihrer Decke und weinte. Aber als ich ihr am nächsten Morgen ein Stück Brot brachte und es wortlos in ihre Hand drückte, aß sie.
In der folgenden Nacht starb eine Frau. Niemand merkte etwas, bis es am nächsten Morgen hell wurde und sie sich nicht rührte. Als sie nicht von ihrer Pritsche stieg, um sich nach einer Schale Wasser zu drängeln. Sie nahmen ihren Leichnam mit. Ich weiß nicht, wie sie hieß. Niemand wusste das. Und um ehrlich zu sein, interessierte es auch niemanden. Weil gleichzeitig etwas anderes passierte.
Am Nachmittag ließen sie uns antreten und riefen uns namentlich auf. Ich hatte Todesangst, dass sie uns jetzt aufteilen und uns auf den Marsch schicken könnten – plötzlich war mir dieses grauenhafte Lager immer noch lieber als eine ganze Reihe anderer Lager. Hier konnten wir zumindest ausharren, bis die Alliierten kamen. Bestimmt, dachte ich, waren sie inzwischen in Florenz. Und würden bald die Berge erobern und danach in die Ebene vorstoßen. Ich nahm Issas Hand. Sie stand neben mir. Dann fiel mir ein Stein vom Herzen, denn sie teilten uns nicht auf. Stattdessen riefen sie uns einzeln vor und hefteten dann kleine Stoffdreiecke an unsere Kleider – an die Brust, wie einen Orden. Gelb, Rot, Schwarz. Wer sein Dreieck abnahm – wer ohne erwischt wurde –, würde erschossen.
Als die Wachen wieder weg waren, verglichen wir die Dreiecke und versuchten zu begreifen, was sie bedeuten sollten. Jemand meinte, Gelb sei für die Juden, und das schien zuzutreffen. Rot war den Gerüchten nach für die politischen Gefangenen. Wofür Schwarz stehen sollte, wusste niemand. Issa und ich hatten beide ein rotes Dreieck bekommen.
Am nächsten Tag gegen Mittag kamen sie, um uns zu holen. Wir wussten, dass es Mittag war, weil wir die Glocken hörten. Sie ließen uns wieder antreten, diesmal in Viererreihen, in unseren zerschlissenen, schmutzigen Kleidern, so, als wären wir eine Art Bettlerbrigade, und eröffneten uns dann, dass wir zum Bahnhof marschieren würden.
Die Wachen waren sehr mit sich zufrieden, das sah man ihnen an. Sie hatten zur Feier des Tages ihre Stiefel geputzt und schulterten ihre Gewehre, als würden sie eine Parade abhalten – sie stolzierten in ihrem idiotischen Militärschritt herum, bellten Befehle und zielten mit ihren Gewehren auf unseren elenden Haufen von halb verhungerten Frauen. Einem von ihnen, einem Jungen, der höchstens siebzehn war und gerade alt genug für einen dünnen Flaum auf der Oberlippe, erklärte ich, dass seine Mutter, wo sie auch war, sich jetzt bestimmt für ihn schämte. Ich glaube, wenn wir nicht in diesem Moment losmarschiert wären, hätte er mich geschlagen.
Ich hielt Issa am Arm, denn obwohl sie wieder zu essen begonnen hatte, war sie immer noch wacklig auf den Beinen. Ich hatte Angst, dass sie zu Tode getrampelt werden könnte, falls sie stolperte und hinfiel. Oder dass man sie erschießen würde.
»Halt
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