Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Toten der Villa Triste

Die Toten der Villa Triste

Titel: Die Toten der Villa Triste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucretia Grindle
Vom Netzwerk:
gestorben war. Ich wollte wissen, wann ich Mama das letzte Mal gesehen hatte, aber jedes Mal, wenn ich glaubte, alles durchgerechnet zu haben und endlich zu wissen, dass es Freitag oder Sonntag oder Mittwoch war, entschlüpfte mir das Datum wieder, zerrann es mir wie Wasser zwischen den Fingern. Schließlich fragte ich einen Wachmann. Sie kommen nur, wenn sie uns das Essen bringen. Ich suchte mir einen älteren Jungen aus – sie sind alle noch Jungen, aber manche sind fast noch Kinder, und die machen mir am meisten Angst, weil sie selbst Angst haben und sich an ihren Waffen festhalten. Ich trat vor ihn hin und lächelte, als wäre ich immer noch ein hübsches Mädchen, und dann fragte ich ihn in meinem besten Deutsch: »Verzeihung, bitte. Wissen Sie, welcher Tag heute ist?«
    Es war absurd, ehrlich. Wir hätten auf einer belebten Straße stehen können. Oder in einem Café sitzen. Ich hätte mich umdrehen, eine Zigarette in der Hand halten und ihn um Feuer bitten können.
    Einen Moment lang wirkte er so verblüfft, dass ich glaubte, er würde mich gleich schlagen – oder Befehl geben, mich wegzuschleppen und zu erschießen, weil ich die Frechheit besessen hatte, ihn anzusprechen. Dann verbeugte er sich knapp und sagte: »Donnerstag, zweiundzwanzigster Juni.«
    Ich wollte wegrennen, wollte mir diesen Fetzen an Gewissheit schnappen und damit zu meiner Pritsche laufen und ihn dort an mich pressen, damit niemand ihn mir stehlen konnte. Aber das tat ich nicht. Ich war vorsichtig. Diesmal machte ich keinen Fehler. Ich sagte auf Deutsch und so höflich ich nur konnte: »Vielen Dank.« Dann drehte ich mich um und ging davon, ohne mich noch einmal umzudrehen.
    Zitternd setzte ich mich wieder hin und barg dieses winzige Stück Normalität an meiner Brust, ich hielt es wie einen Falter in den hohlen Händen, spürte, wie es mit den Flügeln flatterte, und gab mir alle Mühe, es nicht zu zerquetschen. Schließlich drehte ich mich zu Issa um. Sie saß mit dem Rücken zu mir und hielt ein Stück Brot in der Hand, das in der Essensschlange ausgegeben worden war.
    »Ich weiß, welcher Tag heute ist«, flüsterte ich.
    Sie drehte sich nicht um. Ich beugte mich zu ihr, roch den heißen, scharfen Duft ihrer Haut – es gibt hier kaum Wasser, jedenfalls nicht genug zum Waschen.
    »Heute ist Donnerstag, der zweiundzwanzigste Juni.«
    Ich überreichte es ihr wie ein Geschenk, aber sie sah mich nicht einmal an. Ich war so wütend, dass ich den restlichen Tag kein Wort mehr mit ihr wechselte.
    Ein paar Tage darauf trafen die neuen Frauen ein. Es waren nur eine Handvoll, zwölf oder fünfzehn. Sie kamen mitten in der Nacht. Die Türen gingen auf. Wir hörten Schritte und ein paar Rufe. Ich hatte geträumt – das, was ich zurzeit immer träume, wie meine eigenen Schritte über das Pflaster hallen, wie ich viel zu schnell zu dem Haus in der Via dei Renai eile. Manchmal geht Mama neben mir. Manchmal Carlo. Manchmal folgen sie mir alle, im Gänsemarsch und blindlings, während ich sie die Straße hinab- und um die Ecke führe, bis wir – nicht das Haus, nicht einmal die offene Hintertür – eine Lichtung im Wald sehen. Und mehrere Spaten. Und einen Graben.
    Mit pochendem Herzen setzte ich mich in der Dunkelheit auf. In der offenen Tür war es hell. Dann wurde es wieder dunkel, und ich spürte in der einsetzenden Stille, wie zahllose andere Augen genau wie meine auf die Gestalten blickten, die dort standen. Die Neuen blieben dicht aneinandergedrängt stehen, und plötzlich musste ich an die Reise denken, die Papa und Mama mit uns nach Venedig unternommen hatten, als wir noch klein waren. Dort, in einer Ecke von Sankt Markus, hatte Papa uns die Skulptur der türkischen Soldaten gezeigt, die sich ängstlich zusammendrängten, weil sie sich in einer feindlichen Stadt wiederfanden.
    Schließlich bewegten sich die Frauen. Sie schlichen in eine Ecke und legten sich dort zum Schlafen auf den Boden. Es gab zwar noch freie Pritschen, doch sie nahmen keine davon in Anspruch, weil sie nicht wussten, wo sie hinsollten und welche sie gefahrlos in Beschlag nehmen konnten.
    Am Morgen drängten wir uns um sie. Sie sahen verstört und schmutzig aus, schmutziger als wir sogar. Aber sie wussten Neues zu berichten. Sie waren von einem Gefängnis außerhalb Livornos verlegt worden, wo es schwere Bombenangriffe gegeben hatte. Auf dem Weg zum Bahnhof hatte alles in Trümmern gelegen. Es hatte ausgesehen, erzählte eine, als wäre ein Riese über die Stadt

Weitere Kostenlose Bücher