Die Toten der Villa Triste
junger Bäume. Im Frühling würde sich der Abhang in eine geschwungene grüne Welle verwandeln, das frische Grün würde selbst den struppigen, müllverschandelten Wald verschönern, durch den sie hergefahren waren.
Das alte Gesteck war unter dem Regen kaputtgegangen. Das Band hing schlaff herab. Die Fäulnis zog sich in braunen Fäden durch die ungeöffneten, elfenbeinhellen Rosenknospen und hatte die weißen Trompetenblüten der Lilien welken lassen. Pallioti setzte den Karton ab, hob vorsichtig die toten Blumen hoch und brachte sie weg, während Signora Grandolo den Karton öffnete und das neue Arrangement herausnahm.
Auch dieses Arrangement war weiß. Die Schleife war frisch gestärkt, die Knospen leuchteten fest und cremig. Signora Grandolo legte es unten an dem schlichten Gedenkstein ab und trat zurück. Nirgendwo war eine Spur des Grabens oder ein verrosteter Spaten zu sehen. Kein Echo der Schüsse. Nur die Worte:
Caduti per Italia
Radio Giulia
15. Guigno 1944
Langsam gingen sie zurück. Pallioti trug den Karton mit den alten Blumen. Als sie den letzten Anstieg zu der hohen, abbröckelnden Mauer nahmen, wandte sich Signora Grandolo ihm zu.
»Danke, dass Sie mitgekommen sind.«
»Es war mir ein Vergnügen.«
Eigentlich war das keine passende Erwiderung, nachdem sie an einem so grauen Tag einen Gedenkstein besucht hatten, aber sie passte trotzdem. Er hielt sich gern in Signora Grandolos Nähe auf, auch weil es ihr nichts ausmachte, eine Weile zu schweigen. Kameradschaftliches Schweigen, fürchtete Pallioti oft, war so etwas wie eine aussterbende Kunst.
Er sah auf den Karton in seinen Händen. Ein Stück zerfleddertes weißes Band hing heraus. Daran baumelte eine Karte. Der Florist, dessen Name in diskreten Goldbuchstaben eingeprägt war, galt als einer der teuersten in der Stadt. Signora Grandolo streckte die Hand aus, zupfte die Karte ab und steckte sie in seine Manteltasche.
»Für die Dame Ihres Herzens«, sagte sie und lächelte. »Ich empfehle Rosen. Uneingeschränkt und jedes Mal. Sagen Sie, ich hätte Sie geschickt.«
Sie sah seine Miene und lachte auf. »Oh, ich weiß, für die Lebenden ist das extravagant. Und für die Toten irrelevant. Wenigstens behaupten das meine Töchter. Aber sie lassen mich gewähren. Das ist einer der wenigen Vorteile, die man hat, wenn man alt wird. Und die Witwe eines Bankiers.«
»Ich bin froh, dass Sie das tun.«
Pallioti dachte an die fünf bleichen, perfekten Knospen, die sich wie Schneeflecken von der harten Steinmauer des Gebäudes in der Via dei Renai abhoben. An die Lilien, deren Tigergesichter sich den Kindern öffneten, wenn sie durch die glänzenden Glastüren der Schule herausgerannt kamen.
»Ich bin froh, dass es überhaupt jemand tut.«
»Ja.« Sie sah ihn kurz an. Dann sagte sie. »Ja. Ich auch.« Dann stieg sie ihm voran durch die Lücke in der Mauer.
Als sie auf die Fahrbahn traten, hörten sie oben am Berg einen Motor röhren. Hinter der Ecke und damit außer Sicht gurgelte und hustete er, als der Fahrer schaltete. Signora Grandolo blieb vor dem alten Gasthaus stehen und wartete ab. Pallioti stellte sich neben sie. Im selben Moment blickte er instinktiv auf Signora Grandolos Mercedes, der ihnen gegenüber vor der Kirche stand, und sah, wie sich unter dem Portal etwas Helles bewegte.
Er sah genauer hin. Das Kirchentor, das bei ihrer Ankunft noch geschlossen gewesen war, stand jetzt einen Spalt weit offen. Direkt dahinter stand eine Gestalt. Eine Frau mit einem gegürteten Mantel.
Pallioti merkte, wie Zorn in ihm aufwallte. Er wollte schon auf die Fahrbahn treten und über die Straße stürmen, als sich ein Laster, ein riesiger Sattelschlepper, um die Ecke schlängelte. Die Gänge knirschten wieder, als er die Kurve durchfahren hatte, und dann donnerte er mit flatternder Plane an der Albergo Buon Riposo vorbei. Pallioti sah nach unten und begriff, dass Signora Grandolo ihn am Arm zurückgehalten hatte.
»Was ist denn?«, fragte sie.
»Es ist …« Er schüttelte den Kopf, während der Laster verschwand und weiter hügelabwärts raste. Als er erneut über die Straße sah, war die Kirchentür wieder geschlossen. Das Portal war leer bis auf ein paar dunkle Schatten. »Es ist nichts. Wirklich nichts.«
21. Kapitel
2. Juli 1944
Ich wollte um jeden Preis herausfinden, welcher Tag es war. Ich zählte die Tage an den Fingern ab, versuchte zu überschlagen, wie viel Zeit wir in der Villa Triste verloren hatten. Ich wollte ausrechnen, wann Papa
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