Die Toten der Villa Triste
losgeschüttelt.
Im nächsten Augenblick rannten wir los – durch das Haus, zur Haustür hinaus und zum Schuppen, wo unsere Fahrräder standen. Ich hatte meines gerade herausgezogen und wollte schon aufsteigen, als ich innehielt und Issa das Rad hinschubste, sodass sie es am Lenker festhalten musste.
»Mama!«
Ich wollte zum Haus zurücklaufen, doch Issas Hand schoss vor und hielt mich auf.
»Die ist mit Papa im Keller. Sie haben vor einer Woche da unten Notvorräte eingelagert.«
Ich sah auf ihre Hand, die mein Kleid festhielt, und begriff, dass etwas nicht stimmte.
»Meine Uniform.« Ich murmelte die Worte vor mich hin wie eine Verrückte, die auf der Straße Selbstgespräche führt. »Mein Armband.«
»Ist doch egal.«
Isabella drückte mir mein Fahrrad in die Hand. Sie rief mir etwas über die Schulter zu, das ich nicht verstand, und dann, bevor ich wusste, wie mir geschah, war sie weg, sodass mir nichts anderes übrig blieb, als ihr hinterherzufahren, die Auffahrt hinunter, hügelabwärts und durch die Porta Romana in die Stadt.
Wir erreichten das Krankenhaus gleichzeitig mit den ersten Krankenwagen. Überall rannten Menschen herum. Issa rief mir etwas von einer Bürgerwehrgruppe zu und strampelte davon. Mir blieb keine Zeit, mir den Kopf zu zerbrechen, wohin sie wohl fuhr. Sobald ich mein Fahrrad fallen gelassen hatte, packte mich eine Schwester am Arm. Eine Frau hielt ihren kleinen Jungen im Arm. Wir brauchten fast zehn Minuten, bis wir sie überredet hatten, ihn loszulassen, damit wir ihn untersuchen konnten, doch sobald wir den Kleinen aus ihren Armen gezogen hatten, erkannten wir, was seine Mutter von Anfang an gewusst hatte – dass er tot war.
Das Kinderkrankenhaus lag ganz in der Nähe, darum kamen die meisten Verletzten zu uns. Zwei Schwestern, die versucht hatten, ihre Station zu evakuieren, bevor sie einen Volltreffer abbekommen hatte, starben noch im Korridor, weil wir sie nicht schnell genug in einen Operationssaal bekamen. Kleinkinder lagen schreiend in ihren Körbchen. Ein kleiner Junge auf Krücken suchte nach seinem Vater. Ein Mädchen mit zerschnittenem Gesicht hielt ihren ausgestopften Hasen umklammert. Und dann kamen die Eltern, ganze Familien, die nach ihren Kindern und Enkelkindern suchten. Ein Mann rannte mit einer Serviette um den Hals durch die Gänge, weil er mit seiner Familie in Scandicci beim Mittagessen gesessen hatte, als ein Nachbar angelaufen gekommen war und ihnen erklärt hatte, dass das Krankenhaus, in dem seiner Tochter tags zuvor die Mandeln herausgenommen worden waren, eben von den Alliierten bombardiert worden sei.
Merkwürdig war, dass ich, während um mich herum die Hölle tobte, keine Angst hatte. Während ich auf unserer Terrasse gestanden hatte, hatte ich mich zu Tode gefürchtet. Meine Angst hatte mich so gelähmt, dass ich wie angewurzelt stehen geblieben war. Wahrscheinlich hätte ich immer noch dort gestanden, wenn Isabella mich nicht weggezerrt hätte. Wahrscheinlich hätte ich den ganzen Nachmittag und die ganze Nacht dort gestanden und bibbernd auf die Stadt gestarrt wie ein Idiot. Aber sobald ich im Krankenhaus angekommen war, sobald meine Hände etwas zu tun hatten – da fiel die Angst von mir ab. Sie zersplitterte wie Glas. Und wurde von einer eigenartigen Leere abgelöst. Meine Finger bewegten sich von selbst. Mein Mund redete. Mein Hirn schaltete und arbeitete. Es wählte die richtigen Instrumente aus, ging methodisch eine Aufgabe nach der anderen an. Und die ganze Zeit hatte ich, wenn überhaupt, nur einen Gedanken: Danke, General Eisenhower, danke, Mr. Churchill, wenn ihr uns auf diese Weise befreien wollt.
Irgendwann gegen Abend tauchte Issa wieder auf. Sie war staubbedeckt. Die Studenten hatten Gruppen von »Zivilhelfern« gebildet und halfen den Menschen dabei, sich aus den zerbombten Häusern zu befreien, notfalls, indem sie den Schutt mit bloßen Händen beiseiteräumten. Issa kam mit einem Krankenwagen und begleitete eine uralte Frau mit ihrem Mann, der wie ein Irrwisch schrie. Sein Arm war an drei Stellen gebrochen – das tat weh, aber er würde überleben. Während seine Knochen gerichtet wurden, versuchte Issa, die Frau zu trösten, und machte sich auf die Suche nach mir, um mich zu fragen, wo sie der Alten etwas zu trinken beschaffen konnte. Es gab nichts zu trinken außer Wasser, und normalerweise wäre ich vielleicht wütend auf Issa gewesen, weil sie solchen Unfug redete und mir im Weg stand – aber an diesem Tag nicht. In
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