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Die Toten der Villa Triste

Die Toten der Villa Triste

Titel: Die Toten der Villa Triste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucretia Grindle
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Balestro zog die Brauen hoch, als wäre allgemein bekannt, dass ihm demnächst der Bestseller des Jahrhunderts aus der Feder fließen würde. »Es wird eine Offenbarung«, beschwor er Pallioti. »Glauben Sie mir.«
    Er griff nach einem zweiten Foto aus einer Sammlung von schweren Silberrahmen auf dem Tisch neben seinem Sessel und reichte es Pallioti. Es war eine Kopie oder vielleicht das Original jenes Bildes, das an Achilleo Ventas Wand hing.
    »Wissen Sie, wann das war?«, wollte er wissen. »Das war der größte Tag in unserer Geschichte! Der Tag der Befreiung der schönsten Stadt auf Erden.«
    »Ja.« Pallioti gab es ihm zurück. »Der 11. August 1944. Was haben Sie eigentlich während des Krieges getan?«
    Piero Balestro stellte das Bild neben die immer noch leeren Teetassen und tippte sich an den Nasenflügel und zwinkerte.
    »Das muss unter uns bleiben«, sagte er. »Obwohl es bestimmt kein Problem ist, wenn ich es Ihnen erzähle. Falls irgendwas davon publik wird, weiß ich, wen ich verklagen muss.« Er sah erst Pallioti, dann Eleanor an, bevor er fragte: »Haben Sie je von Il Spettro gehört?«
    »Dem Gespenst?«, fragte Eleanor mit schwacher Stimme.
    »Natürlich«, bestätigte Piero Balestro. »Il Spettro. Also …« Er lehnte sich grinsend in seinen Sessel zurück. »Sagen wir einfach, wenn mein Buch veröffentlicht wird, werden Sie wesentlich mehr darüber wissen.«
    »Und was genau?«, fragte Pallioti und zwang sich zu lächeln. »Die wahre Identität, nach all den Jahren?«
    Piero Balestro tippte sich wieder an den Nasenflügel und zwinkerte.
    »Ich schicke Ihnen ein Vorausexemplar«, versprach er.
    Eleanor Sachs beugte sich vor. »Wollen Sie etwa sagen …«
    »Ich sage gar nichts, junge Dame. Nicht vor dem Veröffentlichungstermin!«
    Aber …«
    »Wenn wir jetzt wieder über Giovanni Trantemento sprechen könnten …«, warf Pallioti ein und nahm Eleanor damit den Wind aus den Segeln. »Er ist nicht auf diesem Foto?«
    Er spürte Eleanors glühenden Blick.
    »Giovanni? Nein.« Piero Balestro schüttelte den Kopf. »Nein. Er war bei der Befreiung nicht mehr dabei. Da war Il Corvo schon lange fort.«
    »Schon lange fort?«
    »Ja. Ja, seine Mutter war krank, müssen Sie wissen. Er kümmerte sich um sie. Brachte sie in die Schweiz.«
    »Und wie stellte er das an?«
    »Wie?«
    Piero Balestro sah Pallioti an. Zum ersten Mal wurde es still im Raum. Pallioti beugte sich gegen den hartnäckigen Widerstand des Sofas vor. »Ich hätte angenommen«, sagte er, »dass man damals nur sehr schwer an Reisepässe und an das nötige Geld gekommen wäre. Im Juni 1944. Also, wie hat er sie dorthin geschafft? Ein junger Mann, der mit den Partisanen kämpfte. Noch dazu ein Halbjude. Die Bankkonten waren eingefroren worden, und ich hätte gedacht, dass solche Papiere so gut wie gar nicht zu beschaffen waren.«
    Der alte Mann lächelte. »Nichts ist unmöglich, Dottore.« Die Herzlichkeit war aus Balestros Stimme gewichen und hatte einer kalten Ruhe Platz gemacht. Er breitete die Hände aus. »Ich entstamme einer Bauernfamilie«, sagte er. »Und jetzt sehen Sie sich dieses Haus an.«
    Pallioti und Piero Balestro starrten einander an.
    »Ich frage Sie noch mal«, sagte Pallioti nach ein paar Sekunden. »Wie kam ein junger Partisanenkämpfer an drei Ausweise und Reiseerlaubnisse, um seine Familie in die Schweiz zu schaffen?«
    »Woher soll ich das wissen?«, fragte Piero Balestro und zuckte die Achseln. »Il Corvo. Er war immer der Schlauste von uns allen.«
    »Wirklich? Er war Ihr Anführer, oder?«
    »Das habe ich nicht gesagt.«
    »Nein. Achilleo Venta meinte, das seien Sie gewesen. Massimo.«
    Falls ihn der alte Name überraschte, ließ er sich das nicht anmerken. Stattdessen meinte er: »Damals tat ein Mann, was ein Mann tun muss, Dottore.« Die Worte kamen scharf und knapp. Er fixierte Pallioti mit seinen kalten Augen. »Menschen wie Sie können das nicht verstehen. Damals ging es nur darum, sich um die eigenen Leute zu kümmern. Nazi. Faschist. Partisan. Jeder kämpfte für sich allein.«
    Die Augen unter Piero Balestros vollem weißem Haar wirkten völlig farblos. Wie der Boden eines leeren Glases.
    Trotz der wattierten Jacke und des geheizten Raums wurde es Pallioti kalt.
    »Erzählen Sie mir doch«, fuhr er fort, »was Sie über Radio Julia wissen.«
    Piero Balestro blinzelte nicht einmal. Einen Moment lang rührte er sich nicht. Dann breitete er wieder die Hände aus. »Tragisch«, sagte er. »Sie wurden verraten.

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