Die Toten der Villa Triste
elektronischen Tor aufgefallen, das am anderen Ende der Zufahrt stand. Entweder war Piero Balestro unvorsichtig geworden, was sich Pallioti kaum vorstellen konnte, oder er erwartete sie bereits.
Wahrscheinlich hatte Agata Venta sie nur nicht mit der Mistgabel über die Auffahrt gejagt, weil sie zu beschäftigt gewesen war – erst damit, ihren Vater auszuhorchen, dann damit, den lieben und offenbar unverschämt reichen Vetter Piero anzurufen.
Pallioti hatte den früher als Massimo bekannten Mann nie gesehen, er hatte keinen Beweis dafür, dass er je etwas Unrechtes getan hatte, und doch hasste er ihn. Er sah sich um. Betrachtete die perfekt manikürten Beete, mit denen die geschwungene Auffahrt eingefasst war. Die frisch lackierten Fensterläden mit den glänzenden Messingscharnieren. Die blau leuchtende Abdeckung des Swimmingpools hinter den dicht gepflanzten Kamelienbüschen. Der Schnee, der vergangene Nacht gefallen war, war bereits spurlos geschmolzen. Die Sonne unternahm einen halbherzigen Versuch, die weiße Wolkendecke zu durchdringen. Vielleicht würde es noch ein schöner Nachmittag. Trotzdem roch es hier faulig. Unter dem glänzenden Lack stank es nach Tod und Verwesung.
Eine Sekunde wünschte sich Pallioti, Enzo wäre nicht in Brindisi, sondern hier, und er selbst hätte seine alten Skrupel überwunden und eine Waffe angelegt. Er überlegte gerade, ob er Eleanor die Stufen hinunter- und zum Auto zurückzerren sollte, als die Haustür aufschwang.
Die Frau, die ihnen öffnete, war noch kleiner als Eleanor. Ihr Haar war so schwarz, dass es die Deckenlichter des Flurs spiegelte. Die blassblaue Uniform sah aus, als wäre sie für eine Puppe maßgeschneidert worden. Die Schürze war frisch gestärkt, Manschetten und Kragen leuchteten jungfräulich weiß.
»Der Doktor ist im Stall«, sagte sie an Pallioti gewandt und ohne Eleanor zu grüßen. »Er hat gesagt, Sie sollen nachkommen. Ihn dort treffen.«
Pallioti hatte automatisch nach seinem Dienstausweis gefasst, ließ ihn jetzt jedoch in die Innentasche des Mantels zurückgleiten. Er würde ihn nicht brauchen. Massimo wusste genau, wer er war und warum er hier war.
Ein gepflasterter Pfad führte an jener Seite des Hauses vorbei, die dem Swimmingpool gegenüberlag, und dann ein paar Stufen hinab auf den Rasen. Pallioti und Eleanor folgten dem Weg. Beim Näherkommen erkannten sie, dass die Ställe aus Ziegeln gemauert waren und einen langen, niedrigen Block mit tief gezogenem Vordach bildeten. Auf der Mitte des Giebels thronte ein eisernes, galoppierendes Pferd mit wehender Mähne und fliegendem Schweif als Wetterfahne. Eleanor wollte etwas sagen, fing Palliotis Blick auf und klappte den Mund wieder zu. Die Stufen führten an die vordere Koppel, auf der drei Pferde grasten, die gemächlich mit dem Schweif schlugen und deren Leiber von roten Decken gewärmt wurden.
Kaum hatten Pallioti und Eleanor den letzten Pfosten passiert, trat ein Mann aus dem Tor in der Mitte des Stallgebäudes. Er trug altmodische Reithosen, absurd glänzende Stiefel und einen grünen Filzhut mit einer Feder im Band.
»Dottore, Dottore! Wie ich mich freue!« Piero Balestro riss die Arme auseinander. »Willkommen!«, rief er. Sofort spannte sich seine Tweedjacke und zerrte an den Knöpfen, bis sie ihm von der Brust zu springen drohten. »Es ist mir eine Ehre. Ich habe schon so viel von Ihnen gehört.«
Pallioti fragte sich, ob das vielleicht stimmte, und wenn ja, was genau der gute Doktor gehört hatte. Und von wem er es gehört hatte. Er reichte ihm die Hand.
»Dr. Bales. Oder nennen Sie sich inzwischen Balestro?«
»Aha, Sie wissen also Bescheid, wie? Über meine ›Amerikanisierung‹. Aber natürlich wissen Sie das. Schließlich arbeiten Sie für unsere allwissende Polizei.«
Piero Balestro lächelte, als wäre das unglaublich witzig. Fast so komisch wie die Tatsache, dass er gewusst hatte, wer Pallioti war, noch bevor er sich vorgestellt hatte.
»Balestro, Bales. Offiziell heiße ich Peter Bales. Sie können mich nennen, wie es Ihnen beliebt, Dottore. Und dies ist?« Er ließ Palliotis Hand los und drehte sich zu Eleanor um.
»Professor Eleanor Sachs«, antwortete Pallioti. »Sie hilft uns bei unseren Ermittlungen.«
»Sehr erfreut. Überaus erfreut.«
Piero Balestro sprach in Natur genauso laut und jovial wie auf dem Video. Pallioti fragte sich, ob es die Pferde genauso irritierte wie ihn. Offenbar nicht. Die drei auf der Koppel hatten nicht einmal den Kopf gehoben. Ein
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