Die Toten der Villa Triste
während die wenigen Touristen, die so spät im Jahr noch unterwegs waren, eilig Schutz suchten.
Sobald er am Samstagnachmittag in die Stadt und in sein Büro zurückgekehrt war, hatte er Saffy angerufen und ihr mitgeteilt, dass er am Sonntag nicht zum Mittagessen kommen würde. Seine Schwester hatte ihn beschworen, dass er damit Maria Grandolo ins Mark treffen würde, die ihr extra eine Einladung abgebettelt hatte, weil sie hoffte, ihre neue, vor Kurzem geknüpfte Beziehung vertiefen zu können. Aber Pallioti hatte nicht einmal gelacht. Er war nicht in der Stimmung, sich aufziehen zu lassen, und während der vergangenen vierundzwanzig Stunden war seine Laune ständig weiter abgesunken. Noch während er über die Autobahn gebraust war, die halb schlafende Eleanor Sachs an seiner Seite, hatte er im Kopf die Anklage gegen Piero Balestro erstellt.
Alles, was er herausgefunden war, bestärkte nur, wovon er inzwischen überzeugt war – dass Balestro, Roblino und Trantemento vor sechzig Jahren Radio Julia und weiß Gott wen noch verraten hatten. Dass sie sich zerstritten hatten, vielleicht erst in jüngster Zeit, vielleicht schon vor vielen Jahren, und dass Balestro daraufhin die beiden anderen umgebracht hatte – wahrscheinlich, weil er sie zum Schweigen bringen wollte. Soweit Pallioti es erkennen konnte, passte alles zusammen. Die beiden Männer hatten jemandem die Tür geöffnet, den sie, zugegeben, vielleicht nicht besonders gemocht, den sie aber keinesfalls für gefährlich gehalten hatten. Die verwendete Waffe war genau die Art von »Erinnerungsstück«, die alte Soldaten aufbewahrten. Das Bargeld in Trantementos Safe deutete auf Erpressung hin. Er war nicht ganz sicher, ob Trantemento der Erpresser oder der Erpresste gewesen war, und er konnte sich auch nicht erklären, worüber sich die drei alten »Waffenbrüder« entzweit hatten. Trotzdem war er sicher, dass Piero Balestro beziehungsweise Peter Bales oder Massimo, wie er sich auch immer nennen mochte, ihm das noch verraten würde. Falls er eine Gelegenheit bekam, ihn zu vernehmen. Richtig. Offiziell. In einem Verhörraum.
Das einzige Problem war, dass niemand seiner Meinung war.
Enzo Saenz, der am Sonntag zwar ohne das erhoffte Geständnis, jedoch mit, wie er es nannte, »wichtigen Erkenntnissen« aus Brindisi zurückgekehrt war, hatte ihm höflich Gehör geschenkt. Er hatte Pallioti sogar zugestanden, dass er kurz davor stehen könnte, ein Verbrechen aufzuklären, das vor sechzig Jahren begangen worden war. Doch trotz der Tatsache, dass die Indizien gegen Bruno Torricci nicht mehr ganz so schlüssig wirkten wie anfangs, dass sie sein Alibi für den Tag, an dem Roberto Roblino ermordet worden war, bisher nicht widerlegen konnten und dass sie weder seine Anwesenheit in Florenz nachweisen noch die Waffe aufspüren konnten; trotz der Tatsache, dass sie abgesehen von den Briefen nichts von Bedeutung ermittelt hatten, außer dass Brunos Freundin für eine IT-Firma arbeitete, die eine Reihe von Softwaresystemen bei der Polizei installiert hatte – was, soweit man sagen konnte, an sich kein Verbrechen darstellte; trotz alledem war Enzo nicht überzeugt, dass eine Folge von Ereignissen, die sich vor über sechs Jahrzehnten zugetragen haben mochten – oder auch nicht –, ein Motiv für einen Doppelmord darstellen konnte. Er hatte Pallioti angehört. Dann hatte er ganz ruhig eingewandt, dass Piero Balestro vielleicht kein besonders netter Mensch war, dies aber leider nicht die Tatsache aufwog, dass sie keinen einzigen Beweis gegen ihn in der Hand hatten.
Der ermittelnde Richter hatte ihm beigepflichtet – und sich auch nicht überzeugen lassen, dass sie bei einer gründlichen Durchsuchung des Balestro-Anwesens hundertprozentig die nötigen Beweise zutage fördern würden, vor allem die Sauer 38H, die Palliotis unerschütterlichem Gefühl nach höhnisch im ersten Stock in einem Safe oder Waffenschrank ruhte. Gefühle, hatte der Richter ätzend eingewandt, reichten nicht mehr aus, um jemanden anzuklagen oder sein Haus auf den Kopf zu stellen. Für eine Anklage oder eine Hausdurchsuchung brauchte man heutzutage Beweise. Alles andere bedeutete, im Trüben zu fischen. Was vielleicht einem Angler angemessen war, aber keinem Polizisten. Nachdem er dies angemerkt hatte, hatte er sich noch dazu herabgelassen, Pallioti zu eröffnen, er sei »überrascht und enttäuscht«.
Tief im Herzen war Pallioti es auch. Sein Groll richtete sich zum Gutteil gegen ihn selbst. Was zwar
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