Die Toten der Villa Triste
Alle miteinander. Umgebracht.«
»Von wem wurden sie verraten?«
»Das weiß niemand.«
»Das muss Sie ganz besonders getroffen haben.«
Piero Balestro lächelte. »Und warum sollte es das?«
»Weil es Ihre Kameraden waren, die Mitglieder Ihrer GAP-Einheit.« Pallioti wartete kurz ab. Dann setzte er nach: »Und wegen Lilia.«
Eine Sekunde lang glaubte er, etwas über das Gesicht des Alten zucken zu sehen. Eine Erinnerung? Der Anblick eines schönen Mädchens? Das Gesicht einer Frau, die »so viel wert wie zehn Männer« war und einen anderen liebte, einen hübschen Jungen aus dem Veneto, einen jungen, engelsgleichen Offizier – genau die Art von Nebenbuhler, die ein Bauernsohn, selbst ein reicher Bauernsohn wie Piero Balestro, gehasst haben musste?
»Lilia«, sagte Balestro schließlich. »Ich kann mich gar nicht an sie erinnern.«
Pallioti nickte. Er spielte mit der leeren Teetasse. Dann sagte er: »Sie wurde niedergeschossen. Lilia. Verletzt bei dem Attentatsversuch vor dem Pergola-Theater. Am 14. Februar 1944, dem Valentinstag – an dem Sie und Roberto Roblino und Giovanni Trantemento verhaftet wurden. Kurz vor Ihrer wundersamen Flucht.«
Piero Balestro lächelte. Sein Blick lag fest auf Palliotis Gesicht.
»Ja. Ja, natürlich. Jetzt fällt es mir wieder ein. Das war eine ausgesprochen glückliche Wendung, nicht wahr?«
Pallioti setzte die Tasse ab. Sie klirrte leise auf der Untertasse. »Für Lilia?«, fragte er. »Oder für Sie?«
»Für uns alle, Dottore. Für uns alle. Das Glück hilft dem Tüchtigen.«
»Das kommt mir bekannt vor.«
Pallioti erhob sich abrupt.
»Lilia allerdings«, fuhr er fort, »hatte nicht so viel Glück, oder? Als Radio Julia verraten wurde, wurde ihre ganze Familie umgebracht. Und dazu der Mann, den sie liebte. Sie war schwanger. Wussten Sie das? Als sie deportiert wurde.«
Piero Balestro stand nicht auf. Stattdessen lehnte er sich zurück und sah zu Pallioti auf. Er lächelte. »Irgendwann ist bei jedem das Glück erschöpft, Dottore«, sagte er. »Ich bin sicher, dass Sie allein hinausfinden.«
Sobald Pallioti aus dem Wohnzimmer in den Flur getreten war, atmete er tief durch. Er blieb kurz stehen, schloss die Augen und kämpfte gegen den brodelnden Zorn in seiner Brust an. Das Hausmädchen erschien, huschte mit quietschenden Gummisohlen über den Fliesenboden zur Tür und begann, eine beunruhigende Anzahl von Schlössern zu entriegeln. Schließlich trat sie zurück, wobei sie um ein Haar über ein Stiefelregal gestolpert wäre, das unter einem blank polierten Wandhalter für eine Schrotflinte und zwei Jagdgewehre stand. Pallioti kam Agata Ventas Gewehr in den Sinn, das so sorglos wie ein Regenschirm auf der Veranda gelehnt hatte. Jesus, dachte er, schloss eigentlich niemand in diesem Land seine Waffen weg? Er wollte schon eine entsprechende Bemerkung machen, als er Eleanor Sachs’ Hand an seinem Ellbogen spürte.
»Verschwinden wir«, flüsterte sie.
Fünf Minuten später bog der Renault wieder auf die Straße ein. Diesmal glitt das elektrische Tor hinter ihnen zu, und das so knapp, dass es ihnen fast die Stoßstange abgeschnitten hätte. Bis Pallioti die Autobahn erreicht hatte und sie in Richtung Florenz unterwegs waren, hatte es zu regnen begonnen. Er wechselte auf die Überholspur und schaltete die Scheibenwischer ein. Eleanor Sachs ließ sich in den Beifahrersitz sinken.
»Es stimmt eben doch«, sagte sie.
»Was?«
»Dass man sich in Acht nehmen soll, was man sich wünscht.« Sie schloss die Augen und schüttelte den Kopf. »Wenn dieser Mann mein Großvater ist, gebe ich mir die Kugel.«
32. Kapitel
»Kommen Sie! Kommen Sie! Der Tisch ist schon bereit. An so einem Abend …«
Bernardo warf die Arme hoch, als wäre das Wetter ein ungezogenes Kind, bei dem er jede Hoffnung auf Besserung aufgegeben hatte. Kopfschüttelnd half er Pallioti aus dem nassen Mantel und schob ihn auf das Refugium zu, das der Tisch in der hintersten Ecke des Lupo bot.
Mit dem gedämpften Licht und den flackernden Kerzen wirkte das Restaurant auf ihn so düster und heimelig wie eine Höhle auf einen verwaisten Wolfswelpen. Und etwa so fühlte sich Pallioti auch. Er war müde, hungrig, schlecht gelaunt und nass. Der Regen, der am Samstagnachmittag eingesetzt hatte, hatte noch nicht nachgelassen. Jetzt, vierundzwanzig Stunden später am Sonntagabend, prasselte er immer noch auf die Stadt nieder, trommelte in eisigen Böen und kalten Güssen gegen die Gebäude und leerte die Plätze,
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