Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Toten der Villa Triste

Die Toten der Villa Triste

Titel: Die Toten der Villa Triste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucretia Grindle
Vom Netzwerk:
diesem Moment war der ganze Zorn verpufft, den ich noch Stunden davor auf sie gehabt hatte, und möglicherweise zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich Mitleid mit ihr, wenn ich ihr ins Gesicht sah. Denn trotz ihrer aufgesetzten Tapferkeit war Isabella nicht an den Anblick von Blut, Fleisch und Knochen gewöhnt. Wenn ich Zeit gehabt hätte, hätte ich ihr erklärt, dass sie sich keine Sorgen zu machen brauchte. Ich hätte den Arm um sie gelegt und ihr erklärt, dass wir alle aus nichts anderem bestanden.

    Am nächsten Morgen erfuhr ich von meiner Beförderung.
    Ich hatte im Magazin eine Ersatzuniform gefunden und es gerade geschafft, mich so weit zu säubern, dass ich pünktlich meine Schicht beginnen konnte, als ich in das Büro der Oberschwester beordert wurde, einer kleinen, strengen Frau, mit der ich kaum drei Worte gewechselt hatte, seit sie mich nach dem Vorstellungsgespräch vor einem Jahr eingestellt hatte. Ich hatte keine Ahnung, was ich angestellt haben könnte, trotzdem verließ mich schlagartig die übernatürliche Ruhe, die ich erst am Vortag erworben hatte. Meine Hand zitterte, als ich sie hob, um an die dunkel glänzende Holztür zu klopfen. Irgendwo im Hinterkopf muss ich wohl geglaubt haben, sie hätte auf wundersame Weise etwas von Lodovico gehört und würde mir gleich mitteilen, dass er gefallen war.
    Wie ein Schulmädchen blieb ich vor ihrem Schreibtisch stehen. Ich hatte Nonnen immer unglaublich Furcht einflößend gefunden und war überzeugt, dass sie nur einen Blick auf mich zu werfen brauchte, um zu wissen, dass ich nicht mehr an Gott glaubte, dass ich zu sehr an leiblichen Genüssen, Parfüms und Verlobungsringen hing und obendrein eine ausgewachsene Memme war. Ich musste mich beherrschen, um nicht unwillkürlich den Kopf zu senken und nachzusehen, ob meine Strümpfe nach unten gerutscht waren.
    Sie schrieb in einem großen Verwaltungsbuch. Ich hatte schon immer problemlos auf dem Kopf stehende Schriften entziffern können und erkannte daher schnell, dass sie eine Liste der Verstorbenen erstellte. Als sie den Stift ablegte und zu mir aufsah, zuckte ich zusammen.
    Ihre Augen waren recht groß und sehr dunkel, und ihre Haut war in weiche Falten gelegt. In ihrem Ornat hätte sie jedes Alter zwischen vierzig und sechzig haben können. Mir fiel ein, dass ich irgendwann gehört hatte, Gottes Kinder seien alterslos.
    »Signorina Cammaccio. Sie sind bestimmt erschöpft.«
    Es klang nicht wie eine Frage, darum antwortete ich nicht. Eigentlich war ich nicht müde. Ich war gar nicht auf den Gedanken gekommen, dass ich müde sein könnte.
    Sie sah mich kurz nachdenklich an. Dann sagte sie: »Sie verstehen bestimmt, dass man darauf hofft, das Kinderkrankenhaus so bald wie möglich wieder eröffnen zu können. Traurigerweise wurden viele der dortigen Schwestern gestern Abend getötet. Natürlich werden wir ein paar von unseren Schwestern in das neue Krankenhaus schicken, um dort auszuhelfen.«
    Sie verstummte. Ich verstand nichts von Kindern und hoffte nur, dass sie mich nicht bitten würde, dorthin zu wechseln – dass sie mich nicht dazu verurteilen würde, wochen-, monate- oder gar jahrelang so wie gestern Abend den Eltern ins Gesicht sehen zu müssen. Ihnen erklären zu müssen, dass Gott oder die Oberbefehlshaber der Alliierten oder die Deutschen oder die Faschisten es für richtig gehalten hatten, ihren kleinen Jungen oder ihr kleines Mädchen in Fetzen zu schießen.
    »Dadurch«, fuhr sie nach kurzem Schweigen fort, »werden uns natürlich Schwestern fehlen.«
    Sie stützte die Ellbogen auf ihr Buch und faltete die kleinen Knubbelfinger über den Namen der Toten.
    »Man hat mir nur Gutes über Ihre Arbeitsweise berichtet«, sagte sie nach einer kurzen Pause. »Darum werde ich Sie bitten, eine neue Aufgabe zu übernehmen. Von heute Vormittag an sollen Sie für mich als Stationsschwester arbeiten.«
    Ich starrte sie an. Etwa fünf Sekunden lang war ich zutiefst erleichtert, dass ich nicht in das neue Kinderkrankenhaus geschickt werden sollte. Dann geriet ich in Panik. Ich war eine Hilfsschwester. Die meiste Zeit teilte ich nur Essen aus, räumte die Wäsche ein, wenn sie aus der Wäscherei zurückkam, las Patienten vor oder schrieb Briefe für sie, und hin und wieder hielt ich sie am Arm, wenn sie mit Babyschritten durch die Station schlurften und aus den Fenstern in den Garten schauten. Ich hielt den Schwestern das Tablett mit den Instrumenten, sah zu, wenn sie Spritzen gaben, und wechselte hin

Weitere Kostenlose Bücher