Die Toten der Villa Triste
und wieder das Bettzeug. Ich hatte mich auf der Universität mit Naturwissenschaften beschäftigt, und meine Anstellung hier im Krankenhaus hatte ich einer Freundin von Mama zu verdanken. Damit waren meine Qualifikationen mehr oder weniger erschöpft. Während des letzten Jahres war ich gekommen, wann immer ich zum Dienst eingeteilt war, hatte getan, was ich aufgetragen bekam, und war danach wieder heimgegangen.
Kurz gesagt, meine Arbeit als Krankenschwester war im Grunde ein akzeptables gutbürgerliches »Steckenpferd«, durch das ich aus dem Haus kam und beschäftigt war, bis ich heiraten würde. Die Stationsschwestern hingegen waren erfahrene Kräfte. Sie teilten die Schichten ein und kontrollierten die Vorräte, entschieden über die Bettenbelegung und das Essen. Ich hatte nur eine sehr vage Vorstellung davon, wie sie das machten.
»Aber, Frau Oberin!«, platzte ich heraus. »Das kann ich nicht!«
Sie legte den Kopf schief und sah mich an. »Das können Sie nicht?«
»Nein!«
»Aber meine Liebe, Sie waren zwei Jahre auf der Universität, nicht wahr?«
»Schon«, sagte ich. »Aber …« Verlegen trat ich von einem Fuß auf den anderen. »Ich bin nur Hilfsschwester.« Ich hörte mich kleinlaut und verstörend kindisch an. »Ich habe keine Ahnung, was ich als Stationsschwester machen soll.«
Sie lächelte. Dann stand sie auf, kam hinter dem Schreibtisch hervor und nahm meine Hand. »Mein liebes Mädchen«, sagte sie. »Uns erwarten Zeiten, in denen die wenigsten von uns wissen werden, was sie tun sollen.«
Am späten Abend ging ich endlich nach Hause. Als ich in unsere Straße einbog, kam ich kaum noch den Hügel hinauf. Stattdessen hatte ich das eigenartige Gefühl zu schweben, einen Zentimeter über den Pflastersteinen durch die Luft zu gleiten, so als wäre ich ebenfalls gestorben, aber zu erschöpft, um die Erde zu verlassen. Als ich mein Fahrrad wegstellte, registrierte ich verschwommen, dass weder Issas noch Papas Fahrrad im Schuppen standen. Ich wusste, dass beide inzwischen meist bis spät am Abend an der Universität blieben, aber mir fehlte die Kraft, mir den Kopf darüber zu zerbrechen, was das zu bedeuten hatte oder wieso es mir keine Ruhe ließ. Stattdessen schob ich den Riegel vor und ging den Weg zum Haus hinauf.
Mattes Licht schien durch die Bäume. Die Dämmerung drängte vom Rand her in den Garten. In einem anderen Leben und wenn das Auto nicht unter seiner Plane gekauert hätte, hätte ich mir vorstellen können, Papa und Mama seien auf einer Ausfahrt nach Arcetri oder zur Piazzale Michelangelo, um den Sonnenuntergang über der Stadt zu beobachten. Ich holte den Schlüssel heraus, aber die Haustür war nicht abgeschlossen. Ich drückte sie auf. Das Haus dahinter fühlte sich leer an.
Nirgendwo brannte Licht. Ich ging durch den Flur. Die Zimmer links und rechts – Papas Arbeitszimmer mit der offenen Tür, das Esszimmer und das Wohnzimmer – blieben den letzten Sonnenstrahlen entzogen und wirkten wie ausgebleicht. Außerdem schienen sie leise zu schwanken, so als stände alles unter Wasser, und die Möbel – Tische und Stühle und Fotos – könnten jeden Moment die Anker lichten und davontreiben.
Ich blinzelte.
Dann durchquerte ich das Esszimmer und drückte die Küchentür auf. Die Teller vom Frühstück oder Mittagessen, das meine Eltern offenbar gemeinsam eingenommen hatten, waren abgewaschen, aber nicht weggeräumt worden. Der lederne Besteckkasten war zugeklappt und abgeschlossen, doch der nicht abgezogene Messingschlüssel leuchtete aus dem Halbdunkel. Die Weingläser standen geisterhaft in ihrem Regalfach. Auf der Anrichte thronte eine Kaffeetasse mit einem dunklen Lippenstiftkuss am Rand.
»Mama?«
Keine Antwort. Ich rief noch einmal nach ihr, ein bisschen lauter, und hörte diesmal in meiner Stimme ein verräterisches schrilles Vibrato.
»Mama?«
Meine Schuhe klackerten über die Fliesen. Ich ließ die Tür zuschwingen, durchquerte das Esszimmer und den Flur und eilte ins Wohnzimmer.
»Mama, bist du da?«
Die Glastüren zur Terrasse waren geschlossen. Der Tisch und die Stühle dahinter waren leer. Plötzlich hatte ich das Gefühl, dass hier gar niemand lebte. Dass ich mich doch nicht getäuscht hatte, als ich in der Näherei in den Spiegel gesehen hatte. Dass ich irgendwie durch die Zeit gerutscht und in eine Zukunft gefallen war, in der wir alle nur noch Geister waren.
Ich drehte um und stürmte die Treppe hinauf.
»Mama!«
Ich stieß die Tür zu meinem Zimmer auf,
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