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Die Toten der Villa Triste

Die Toten der Villa Triste

Titel: Die Toten der Villa Triste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucretia Grindle
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dachte, dass ich damit lieber warte, bis wir eine Kopie seines Testaments besorgt haben.«
    Pallioti sah ihn fragend an.
    »Er hat eine Schwester«, erläuterte Enzo. »Offenbar die einzige noch lebende Verwandte. Sie wohnt in Rom. Die Kollegen unten haben jemanden vorbeigeschickt, der sie informiert. Aber natürlich schicke ich auch einen von unseren Leuten hin. Ich dachte nur, vielleicht sollten wir abwarten, bis wir wissen, ob in dem Safe ein Testament liegt und wer darin als Erbe benannt ist, bevor wir uns mit ihr unterhalten.«
    »Ich muss morgen sowieso nach Rom fahren, wenn Sie so lange warten können.«
    Die Konferenz von verschiedenen Polizeibehörden war schon vor Monaten im Ministerium angesetzt worden. Er würde sich sowieso nicht drücken können. Wahrscheinlich hätten sich nicht viele Menschen auf einen Besuch bei Giovanni Trantementos Schwester gefreut, aber immerhin wäre es ein Gegengewicht zum Rest des Tages, der zermürbend bürokratisch zu werden versprach.
    Enzo sah seine Miene und lächelte.
    »Es wäre mir eine Ehre, Dottore«, sagte er, »wenn Sie dafür ein paar Minuten erübrigen könnten.«

    Marta Buonifaccio stand in ihrer Tür und sah die Männer die Treppe herunterkommen. Sie waren zu zweit. Beide trugen Jeans, Turnschuhe und Lederjacken. Nicht dass es etwas ausmachte. Sie bewegten sich wie alle Polizisten, die ihr bisher begegnet waren.
    Oben waren noch mehr, zwei Frauen klopften an alle Türen. Anfangs hatten sie Marta irritiert, weil sie Frauen waren. Und jung. Praktisch noch Mädchen. Darum hatte sie die Tür geöffnet und war verdutzt im Treppenhaus stehen geblieben. Doch dann hatte sie in ihre Augen gesehen und begriffen. Sie brauchten keine Marke. Sie kamen überall hinein und konnten nach Belieben Fragen stellen.
    Ob sie jemanden gesehen hatte? Ob ihr etwas Merkwürdiges aufgefallen war? Irgendetwas Ungewöhnliches? Kannte sie Signor Trantemento? Hatte er manchmal Besuch bekommen?
    Nein, nein, nein, eigentlich nicht, und nicht, soweit sie wüsste. Ihre Antworten waren nicht einmal gelogen. Aber selbst wenn sie hätte lügen müssen, hätte sie nichts anderes gesagt. Denn so machte man das. So konnte einem niemand etwas anhaben – solange man den Blick gesenkt und den Mund geschlossen hielt.
    Die Männer nahmen gerade die letzten Stufen. Der erste, der in sein Handy gesprochen hatte, klappte es zu und ließ es in die Tasche gleiten. Der zweite, hinter ihm, rückte die Kiste gerade, die er auf beiden Armen vor sich hertrug, so als wäre sie sehr wertvoll, was sie auch war. Giovanni Battiste Trantementos sämtliche Geheimnisse waren darin eingeschlossen. Darum nahmen die Männer die Kiste mit. Sie hatten sich schon den ganzen Abend damit beschäftigt.
    Er war noch nicht einmal einen Tag tot, dachte Marta, und schon weideten sie sein ganzes Leben aus – sie zogen alle Gedärme ans Licht, um darin zu lesen, so wie vor Jahrhunderten die Auguren in den Eingeweiden der Kühe und Schweine gelesen hatten. Damals hatten sie die Tiere aufgeschlitzt und die Innereien auf die glatten Steine geschleudert, um anschließend mithilfe einer Goldmünze die Zukunft darin zu suchen, bis Lorenzo den Gestank schließlich nicht mehr ertragen und die Metzger von der Brücke verbannt hatte, die fortan den Goldhändlern überlassen blieb, die noch heute in ihren Hasenställen daraufhockten.
    Die Schuhe der Männer quietschten, als sie über die großen Steine im Treppenhaus marschierten. Marta rührte sich nicht vom Fleck. Sie stand so reglos im Schatten neben dem großen Kamin, dass die beiden sie gar nicht bemerkten.
    Sobald sie weg waren, sobald die große Haustür knarrend ins Schloss gefallen und den feuchtkalten Wind abgeschnitten hatte, der ins Haus geblasen hatte, trat sie wieder durch die offene Tür in ihre Wohnung. Marta schloss sie so leise, dass sie keinen Laut von sich gab. Darin war sie gut.
    Sie blieb stehen und sah sich in ihrem winzigen Wohnzimmer um. Das Innere ihrer Austernschale. Was würde man wohl alles finden, wenn man sie eines Tages holen kam? Welche Perlen würde man hier pflücken?
    Keine. Nichts. Nicht eine.
    In diesem Moment wurde ihr das sonnenklar. Die Kartons, die man hinaustragen würde, wären mit Porzellantassen und einer Kanne gefüllt. Fotos. Rahmen. Abgetragenen Kleidern. Einem Pullover mit durchgewetzten Ellbogen. Einer Jacke mit Bisamkragen. Einem Hut, der aussah, als hätte sich jemand daraufgesetzt. Den Überresten ihres Lebens.
    Aber nicht mit Geheimnissen.

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