Die Toten der Villa Triste
wir den Leichnam vorgefunden haben, hätte ich angenommen, dass sein Mörder ihn überrascht hat. Wenn das Salz nicht wäre. Übrigens werde ich es natürlich noch analysieren«, ergänzte sie, »aber ich glaube, Ihr Tybalt hatte recht.«
Unwillkürlich musste Pallioti lächeln, als er hörte, wie sie Enzo nannte. Tatsächlich sah er verdächtig nach einem der Capulets aus.
»Ich würde auf gewöhnliches Speisesalz tippen«, fuhr sie fort und zuckte die Achseln. »Ansonsten war er für einen Mann seines Alters in guter Verfassung. Die Sehkraft war natürlich eingeschränkt. Daher die Brille. Aber er trug kein Hörgerät, und ich habe weder ein künstliches Hüftgelenk noch eine Schweineherzklappe entdeckt.«
Versonnen betrachtete sie den Leichnam. Bislang waren sie bei ihren Ermittlungen vom wahrscheinlichsten Tathergang ausgegangen, einem Einbruch oder einem Treffen mit katastrophalem Ausgang. Pallioti hatte von Prostituierten, Gigolos und Strichern gehört, die Waffen bei sich trugen. Aber er hatte noch nie gehört, dass sich einer mit Salz bewaffnet hätte. Soweit er wusste, hatte man in Trantementos Küche nur ein kleines Schälchen mit Meersalz gefunden. Er griff hinter sich nach seinem Mantel. Plötzlich merkte er, wie er rastlos und nervös wurde. Er brauchte ein paar Minuten allein, bevor er mit dem Bürgermeister oder auch nur mit Enzo sprach.
»Ach ja, und ich hatte recht«, ergänzte die Gerichtsmedizinerin und sah ihn wieder an. »Wegen der Kugel. Ich lasse sie sofort in die Ballistik bringen. Aber es war eine Kleinkaliberwaffe. Es gibt keine Austrittswunde. Sie saß noch im Kopf. Ein einzelner Schuss, ohne jeden Zweifel. Die Waffe wurde am Hinterkopf aufgesetzt.« Sie lächelte. »Und zwar von oben.«
Pallioti, der sich gerade den Mantel zugeknöpft hatte, erstarrte.
»Sagen Sie das noch mal.«
»Von oben«, wiederholte sie. »Ich habe Ihnen schon in der Wohnung gesagt, dass ich mir fast sicher bin, aber jetzt habe ich den Winkel genau vermessen. Der Täter stand direkt über und hinter dem Opfer, und zwar so dicht, dass er die Mündung auf den Kopf aufsetzen konnte. Sie können das ganz deutlich sehen, die schwarzen Stellen sind …«
»Schmauchspuren?«
»Ja«, bestätigte sie. »Genau. Am Hinterkopf. Und der Täter zielte nach unten. Ohne jeden Zweifel.«
»Wie hat es sich also Ihrer Meinung nach abgespielt?«
»Also«, antwortete sie, »für mich sieht es so aus, als hätte ihn der Mörder hinknien lassen, ihn erst eine Unmenge Salz essen lassen, dann seinen Mund damit vollgestopft und ihn zuletzt von hinten erschossen.«
3. Kapitel
»Sie meinen also, wir haben es mit einer Exekution zu tun?«
Der Begriff war für Palliotis Geschmack zu melodramatisch. Hätten sie es mit einem Bandenmord zu tun, mit einem Haufen grenzdebiler Drogenhändler, die sich gegenseitig abknallten, hätte er keine Scheu gehabt, es so zu nennen. Exekution. Auftragsmord. Hinrichtung. Womit in jedem Fall kein willkürliches Verbrechen, sondern eine Form von Vendetta verbunden war. Ein geplanter Racheakt. Was wiederum angedeutet hätte, dass das Opfer irgendetwas getan hatte, womit es das verdient hatte.
Er brummte leise vor sich hin.
»Also«, sagte er schließlich, »ich muss zugeben, dass ich nicht weiß, wie man es sonst bezeichnen sollte, wenn man jemanden foltert, ihn sich hinknien lässt und ihn danach in den Hinterkopf schießt.«
»Es passt trotzdem nicht«, sagte Enzo. »Der Schuss vielleicht. Aber nicht, wenn man das Salz dazunimmt. Das Hinknien.« Er schüttelte den Kopf. Dann meinte er plötzlich: »Oder vielleicht doch. Wir haben nirgendwo einen Fingerabdruck entdecken können. Weder im Aufzug noch an der Tür oder in der Wohnung – nirgendwo. Auch keine Faser und kein Haar. Höchstens vielleicht etwas Straßenschmutz.«
Pallioti zog die Schultern hoch.
»Vielleicht trug der Täter Handschuhe und hatte ansonsten einfach Glück.«
Noch während er das sagte, erkannte er, dass er das nicht glaubte.
Enzo sah ihn an. »Andererseits«, erklärte er, ohne auf Palliotis Theorie einzugehen, »verstehe ich nicht, warum der Täter die Brieftasche gleich wieder weggeworfen hat, wenn er tatsächlich so professionell war. Warum hat er sie überhaupt mitgenommen? Dass jemand schnell ein paar Scheine klaut, passt nicht zu einer Hinrichtung. Genauso wenig wie zu dem Salz. Das ergibt keinen Sinn.«
Einen Moment lang schien Giovanni Trantementos Gesicht zwischen ihnen im Raum zu schweben. Pallioti wedelte mit
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