Die Toten der Villa Triste
sie gegen das Licht. Sie war groß und verschließbar wie ein Tiefkühlbeutel. Vorn hatte jemand mit einem schwarzen Filzstift die Zahl 46 daraufgeschrieben. In der oberen Ecke haftete ein kleiner gelber Aufkleber mit einem verschmierten aufgedruckten Namen. Er legte den Beutel zurück und griff nach dem nächsten, der ganz ähnlich aussah, diesmal jedoch vakuumversiegelt war. Die Nummer auf der Vorderseite, wieder mit einer Art schwarzem Filzstift aufgetragen, lautete B742. Sie war eingekreist.
Pallioti blinzelte und angelte in der Jackentasche nach seiner Lesebrille. Damit konnte er auch die winzigen Druckbuchstaben hinter der Plastikfolie lesen. Das Dokument in der Hülle war kein Flugblatt, sondern eine verblichene und zusammengefaltete Zeitungsseite. Er wendete sie und sah in matten, ergrauten Buchstaben den Titel stehen. La Nostra Lotta , unser Kampf. Auch das Datum konnte er erkennen, Februar 1944. Bei den anderen Hüllen war es ähnlich. Es waren mindestens fünfzehn, vielleicht sogar zwanzig. Die Qualität war erbärmlich, die Titel klangen durchweg angeberisch. Ruf nach Freiheit , Vaterland , Die grüne Flamme und noch einmal Unser Kampf.
Er erkannte die Namen wieder. Wie es jedes Schulkind seiner Generation getan hätte. Heimlich in faschistische Zeitungen eingelegt, auf Parkbänken hinterlassen, in Speisekarten versteckt. Sie waren wie kleine Geisterhände, die sich nach einem reckten. Die einem mitten im Gedränge die Schulter drückten. Die einem zuflüsterten, nicht den Mut zu verlieren. Nicht aufzugeben. Dies waren »Zeitungen«, das war die Untergrundpresse, gedruckt und verteilt von den Partisanen während der letzten Kriegsjahre, als die Deutschen Italien besetzt und die Faschisten wieder in die Regierung eingesetzt hatten, damit sie ihr letztes Hurra anstimmen konnten.
Pallioti strich die Hülle in seiner Hand glatt, ließ die Finger über das alte Plastik gleiten und sah dann in Giovanni Trantementos Gesicht an der weißen Tafel. Auf den ersten Blick wirkte der Alte gar nicht sentimental. Aber der Eindruck konnte täuschen. In Wahrheit waren alle Menschen sentimental. In irgendeiner Hinsicht. Warum sollte es ihn überraschen, dass Giovanni Battiste Trantemento, der Held des Befreiungskampfes, stolz auf das gewesen war, was er getan hatte? Dass er diese Flugblätter wie zarte, zerfleddernde Souvenirs aus seiner Jugend bei den Partisanen gesammelt hatte?
Pallioti ließ die Hülle sinken und legte sie vorsichtig auf den Tisch zurück. Er wollte sich gerade abwenden, als ihm etwas ins Auge stach. Etwas Rotes, das ebenfalls in einer Plastikhülle steckte. Er griff in den Haufen und zog es heraus.
Dieser Beutel war geöffnet worden. An der Öffnung klebten noch Flicken von vergilbtem Tesafilm. Im Beutel lag ein kleines, etwa handgroßes Buch. Er ließ es herausgleiten, drehte es um und erkannte, auf dem verblassten roten Lederumschlag eingeprägt, die schattenhaften Umrisse einer Florentiner Lilie.
4. Kapitel
»Er war immer so still. Schon als kleiner Junge. Immer war er so still und so bescheiden.«
Maria Valacci, Giovanni Trantementos siebenundsiebzigjährige Schwester und einzige Verwandte, kauerte zusammengesunken in dem riesigen Lehnstuhl im Wohnzimmer ihrer Villa in Rom, drückte sich das Taschentuch vors Gesicht und begann dann, laut zu weinen. Ihr Sohn stand hinter ihr und tätschelte ihr, nicht allzu sanft, die Schulter.
»Mama«, sagte er. »Bitte.«
Antonio Valacci, groß und dünn, beugte den grotesken Totenschädelkopf über seine Mutter und flüsterte vernehmlich: »Um Gottes willen, Mama, reiß dich zusammen. Der Mann ist Polizist!«
Pallioti lehnte sich in den ungemütlichen Stuhl zurück, den er zugewiesen bekommen hatte, und beobachtete, wie Maria Valacci eher widerwillig die Anweisung ihres Sohnes befolgte. Er fragte sich, ob die beiden wohl wussten, auf welche Weise der gute Onkel Gio seine nicht unbeträchtlichen Schätze erworben hatte. Die Guthaben auf seinen Bankkonten – denn er hatte mehrere geführt – hatten alle überrascht. Zu einem Vermögen hatte es zwar nicht ganz gereicht. Aber wenn man das Bargeld aus seinem Safe dazuzählte, hatte nicht mehr viel gefehlt. Und wie in seinem Testament verfügt, sollte der Großteil, darunter die extrem begehrenswerte Wohnung in Florenz, diesen beiden Menschen zufallen. Pallioti rätselte, ob sie sich dessen bewusst waren.
»Er war mein älterer Bruder«, erklärte sie. »Mein einziger lebender Verwandter.« Antonio
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