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Die Toten der Villa Triste

Die Toten der Villa Triste

Titel: Die Toten der Villa Triste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucretia Grindle
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schmuddelige Jacke und die eindeutig abgetragenen Joggingschuhe und fragte sich, ob Enzo sich gleich unter einer Brücke oder in der Ecke eines ungepflegten Parks mit einem seiner Informanten treffen würde. Sie hatten sich stillschweigend geeinigt, dass Pallioti einfach nicht fragte. Und dass Enzo ihm nie etwas erzählte.
    »Ich lasse ihm noch ein paar Stunden zum Nachdenken, bevor ich ihm die Hölle heißmache.« Das Lächeln, das über Enzos Gesicht huschte, erinnerte an einen Wolf. »Falls ich vor heute Abend noch etwas erfahre«, sagte er dann, »lasse ich es Sie wissen.«
    Pallioti nickte und wünschte sich, das würde ihn beruhigen. »Wer war das eigentlich?«, fragte er aus heiterem Himmel, als sie an die Tür kamen.
    »Wer war was? Der Reporter?«
    »Nein. Antenor.«
    »Ach. Der.« Enzo trat zur Seite, weil ein Zeitung lesender Mann durch die Glastür drängte und sich, ohne aufzusehen, zwischen den Tischen durchschob. »Das wusste ich auch nicht«, antwortete er. »Selbst Signor Pavlakoff musste es nachschlagen, hat er mir gestanden.«
    »Und?«
    »Und Antenor war einer der Alten in Troja. Ein Ratgeber von König Priamos. Möglicherweise hat er auch Padua gegründet.«
    »Padua?«
    Enzo nickte. »Angeblich nach dem Trojanischen Krieg«, erläuterte er, als sie auf die Straße traten. »Zu dem es vermutlich gar nicht gekommen wäre, wenn sie auf Antenor gehört hätten.«
    »Ach ja?«
    Es war ein strahlender Tag, aber trotz der Sonne war es frisch.
    Enzo zog den Pferdeschwanz aus dem Kragen der Lederjacke. »Antenor«, erzählte er, »riet offenbar den Trojanern, Helena zurückzugeben. Er meinte, sie sei den Krieg nicht wert. So wie Signor Pavlakoff es erzählte, warf er nur einen Blick auf die Armeen vor der Stadt und beschwor daraufhin die Trojaner, Helena sofort auszuhändigen, weil sie andernfalls vernichtet würden.«

    27. November 1943
    Erst nach drei Tagen kam ich wieder heim. Die Banducci waren noch da, aber sie waren viel stiller geworden. Selbst die Kinder. Signor Banducci war höchstens noch nervöser als zuvor. Sie hatten immer noch vor, nach Ravenna zu fahren, aber mit den Zügen ist es nicht so einfach. Mit dem Auto zu fahren ist ein Ding der Unmöglichkeit, denn es besitzt kaum noch jemand ein Auto – noch dazu eines mit Rädern –, und es gibt so gut wie kein Benzin mehr. Außerdem ist es gefährlich. Wer sich auf der Straße aufhält, riskiert, von den Alliierten beschossen zu werden, allein aus der vagen Möglichkeit heraus, dass er ein Deutscher sein könnte. Trotzdem kannte Mama jemanden, der jemanden kennt. Sie glaubt, dass sie Reisepässe besorgen könnte, mit denen sie am nächsten Tag den Zug nehmen könnten.
    All das erzählte sie mir, während ich mit ihr am Küchentisch saß. – Ich hatte es absichtlich so angestellt, dass ich erst nach Hause kam, nachdem alle anderen schon zu Abend gegessen hatten. – Als ich fertig war, ging ich nach oben, um meine Uniform auszuziehen, und stellte fest, dass meine Zimmertür abgeschlossen war. Ich ging wieder nach unten und fragte Mama nach dem Schlüssel, den sie aus ihrer Jackentasche wühlte, wobei sie mir ungefragt zeigte, dass sie auch die Schlüssel zu Issas und Ricos Zimmern eingesteckt hatte. Das Mädchen schielte hinter der Küchentür hervor und beobachtete ihre kleine Pantomime. Als ich ins Esszimmer kam, wich die Kleine ängstlich vor mir zurück und drückte sich ins Eck neben der Anrichte, aber ich sah trotzdem, dass in ihrem Haar eine Klammer steckte, die ich in die Schublade meiner Kommode gelegt hatte.
    Ich war zu müde, um mich noch dafür zu interessieren. Ich drehte mich nicht einmal um, als ich ihre Schritte hinter mir auf der Treppe hörte. Im Flur roch es immer noch nach Jasmin. Es war eiskalt. Wir haben praktisch kein Heizöl mehr. Ich spürte, dass die Kleine hinter mir stand, als ich meine Tür aufsperrte. Als ich eintrat, kam sie näher und blieb direkt in der Tür stehen, von wo aus sie mich anstarrte, mit meiner Haarklammer in ihren schlaffen Löckchen und in mein zu enges Kinderkleid gepresst, das um ihren Bauch spannte und dessen Rüschen unter ihrem Pullover hervorblitzten. Ich starrte sie ebenfalls an. Dann drückte ich die Tür zu und schloss ab. Ich hörte sie nicht weggehen. Im nächsten Moment sah ich, als ich die Uniform auszog und meinen Schrank öffnete, dass die kleinen Satinknöpfe vom Rücken meines Hochzeitskleids abgerissen worden waren. Sie lagen, weiß wie Zähne, überall auf dem Boden

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