Die Toten des Meisters - Konrads erster Fall
der gestrigen Nacht der Rat zusammenkommen würde, lag auf der Hand, und dass man natürlich möglichst viel über die Umstände des Mordes erfahren wollte, auch. Die ganze Angelegenheit war heikel, denn wer konnte schon wissen, wie der Kölner Kurfürst auf die Nachricht reagieren würde, dass einer seiner Vertrauten ermordet worden war?
Im Rathaus aber war von Jupp nichts zu sehen. Ein Stadtknecht, den ich nur vom Sehen her kannte, erklärte mir, den ganzen Morgen über sei der Teufel los gewesen. Der Rat sei in heller Aufregung. Erst vor einer knappen Stunde sei der Rat auseinander gegangen, erfuhr ich. Möglicherweise würde ich Jupp im ‚Kleinen Einhorn‘ antreffen, schließlich habe es ja bereits zu Mittag geläutet.
Der Gasthof ‚Zum kleinen Einhorn‘ lag hinter dem Alten Markt, keine fünf Minuten vom Rathaus entfernt. Hier, am Schafbach, hatten die Gerber ihre W erkstätten. Ein paar Lehrjungen waren gerade dabei, Häute aus der Kalkbrühe zu ziehen, auf große Holzblöcke zu legen und die letzten Reste von Haaren, Fett und Fleisch abzuschaben. Zwei Gerber nahmen ein Stück weiter die Häute, die schon sauber waren, und legten sie in die Lohbrühe. Ich ging unwillkürlich schneller. Aus den Fässern und Gerbgruben stank es bestialisch. Jeder Gerber hatte sein Geheimrezept für die richtige Lohbrühe: Eichenrinde, Tierdung, die Pisse der Lehrjungen. An vielen Tagen war der durchdringende Gestank wahrlich atemberaubend. Ich wunderte mich nicht, dass im ‚Kleinen Einhorn‘ die Großen der Stadt selten anzutre ffen waren. Vielleicht war Jupp deshalb so oft hier.
Als ich die Tür öffnete, schlug mir lautes Stimmengewirr entgegen – Mittagszeit. Die Gaststube des Einhorns war klein, und es herrschte ein fürchterliches Gedränge. Was war hier los? Gab es etwa Bier umsonst? Sollte ich umkehren? Ach was, jetzt war ich einmal hier! Da konnte ich mich auch nach Jupp umschauen. Soweit ich sehen konnte, waren die Wände weiß gekalkt und mit Zinntellern geschmückt. Direkt über der Theke hing der ausgestopfte Kopf eines Einhorns. Na ja, was man sich so unter einem Einhorn vorstellte. Ich hatte schon öfter von findigen Händlern gehört, die den Stoßzahn eines Narwals an einen Pferdekopf geklebt hatten, um das Ganze dann teuer als Einhorn zu verkaufen.
Die Gäste, die einen Sitzplatz gefunden hatten, saßen auf Bänken an schweren Holztischen. Auf jedem Tisch fand sich ein Korb mit Brotscheiben, und hinter der Theke konnte man in die Küche sehen, aus der es verführerisch duftete.
Mein Magen knurrte das zweite Mal, jetzt noch lauter.
Kurz entschlossen stellte ich mich auf eine Bank, und da sah ich ihn. Jupp saß an einem kleineren Tisch direkt in einer Fensternische. Es sprach für Jupps Ansehen: Mitten im Getümmel saß er allein an einem Einzeltisch. Vor ihm standen ein großer Krug Bier und ein Holzbrett mit Wurst und Käse. Jupp war so vertieft in seine Mahlzeit, dass er mich erst bemerkte, als ich mich ihm gegenüber hinsetzte. Er schaute hoch und freute sich sichtlich, mich zu sehen.
„Schau an, schau an. Gestern der Hirsch, heute das Einhorn, wenn das so weiter geht, ist bald kein Gasthof in Andernach mehr vor dir sicher. Hast du Hunger? Klar hast du Hunger – ist schließlich Mittag.“
Bevor ich Jupp unterbrechen konnte, tauchte neben mir eine Hand auf, die mir einen Krug Bier hinstellte. Ich blickte hoch. Vor mir stand eine junge Frau, die zu mir herunter lächelte. „Herzlich W illkommen! Das erste Mal im ‚Kleinen Einhorn‘ und ganz augenscheinlich ein guter Freund von meinem Jupp – da geht das erste Bier aufs Haus.“ Ich konnte nicht anders – ich glotzte. Sie war schön, atemberaubend schön. Selbst das grobe Wollkleid und die helle Schürze konnten ihre unglaubliche Figur nicht verbergen. Ihr schmales Gesicht war von der Arbeit in der Küche gerötet. Vor allem aber war es ihre Ausstrahlung, die mich gefangen nahm. Ihr Lächeln gab mir das Gefühl, ich sei in diesem einen Augenblick das Wichtigste für sie und es gäbe nichts anderes als diesen einen Moment, den wir gerade zu zweit erlebten.
Ich schluckte einmal trocken. Danach konnte ich immerhin wieder sprechen: „Herzlichen Dank, schön ist es hier.“ Schön ist es hier – was für eine dämliche Antwort. Himmel, Konrad, reiß dich zusammen!
Ich hatte auch schon vor gekrönten Häuptern gesprochen, ohne ins Stottern zu geraten. Schön ist es hier! Ich sah bereits das breite Grinsen auf Jupps Gesicht. „Ja, und zum Bier
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