Die Toten des Meisters - Konrads erster Fall
Erzählung hatte ich nicht gewagt, eine Frage zu stellen. Mir war, als hätte seine tiefe Bassstimme im Halbdunkel die Schatten der Vergangenheit heraufbeschworen: Ragwald, das Kämpfen – all das war wieder lebendig geworden. Heinrich streckte sich, setzte sich aufrecht auf den Stuhl, und das verschmitzte Lächeln kehrte in seine Augen zurück.
„So, mein Lieber, jetzt weißt du, wie ich zu diesem Schachspiel kam.“
Statt einer Antwort schenkte ich noch einmal Wein ein und hob meinen Becher: „Auf Ragwald!“
Wir stießen an und leerten die Becher in einem Zug.
Ich nahm die übrigen Figuren aus dem Kistchen und stellte sie auf, jede einzelne eine Kostbarkeit . Jetzt – nachdem ich ihre Geschichte kannte – behandelte ich sie mit noch mehr Ehrfurcht. Heinrich machte den ersten Zug. Nach wenigen Spielzügen war mir klar, dass Ragwald damals ganze Arbeit geleistet hatte. Heinrich spielte gut und vorausschauend, schreckte aber auch nicht vor überraschenden, riskanten Spielzügen zurück. Ich dagegen hatte schon viele Jahre nicht mehr am Schachbrett gesessen. Dazu kam, dass ich Heinrich zu Beginn unserer Partie in wenigen Sätzen Johannas Sor gen beschrieb. Nur die Stelle mit dem Messerangrif f ließ ich aus. Ich erwähnte lediglich, dass ich Thomas einen Dolch abgenommen hätte. Der Rest aber genügte schon.
„Gregor, dieser Hundsfott, soll bloß Acht geben, dass er mir nicht über den Weg läuft“, grollte Heinrich.
Als ob das gerade Gregors größte Sorge gewesen wäre! Fast tat mir der Kerl leid. Seine Schwester wollte ihn verprügeln, und wie es aussah, würde sein Pastor ihr dabei auch noch helfen.
„Viel wichtiger ist die Frage, was man tun kann. Thomas scheint mich zu mögen, aber das reicht nicht, u m ihn vom Hafen abzuhalten.“
Ich schaute Heinrich fragend an.
„Zunächst einmal“, Heinrich legte meinen König um, „Schachmatt!“
Zufrieden lehnte er sich zurück. Die Partie war in erschreckend kurzer Zeit entschieden worden.
„Wir werden dir wohl etwas Zeit zum Üben zugestehen müssen.“
Zeit zum Üben, das war es. Plötzlich hatte ich eine Idee. „Pass mal auf, Heinrich, mir ist gerade ein Gedanke gekommen, aber dafür brauche ich deine Hilfe.“
Ich beschrieb ihm meinen Plan, während er die Figuren erneut aufstellte.
„Das könnte gehen, Konrad“, stimmte Heinrich mir schließlich zu. Dann beugte er sich über den Tisch und schlug mir mit seiner Pranke so heftig auf die Schulter, dass mir der Schmerz bis ins Handgelenk schoss.
„Ja, bei Gott, das könnte wirklich gehen.“
15
Sie waren sein Werk. Seine Schöpfung. Er hatte Jahre damit verbracht, sie zu verbessern. Matt schimmerten die Armbrustbolzen in einer Schatulle, die er tagsüber sorgsam in seinem Reisesack versteckt hielt. Doch jetzt war es Nacht, die Zeit der Vorbereitung war gekommen. Der Meister nahm einen Bolzen. Seine Vollkommenheit berührte ihn. Sanft streichelte er über die scharfe Spitze. Die Spitze brachte den Tod. Nein, verbesserte sich der Meister selber – sie brachte fast den Tod. Denn genau das war sein Meisterwerk. Der Bolzen tötete nicht auf der Stelle. Er drang mit seinen Widerhaken in den Körper ein, zerfetzte das Fleisch – und setzte dann das Gift frei, das der Meister sorgsam auf der Bolzenspitze verteilt hatte. Ein Schuss, richtig gezielt, tötete nicht, er lähmte nu r. Genug Zeit, um sich in Ruhe dem Sterbenden zu widmen. Der Meister lächelte still. Sich widmen, das klang gut. Der Meister legte einen Bolzen in eine kleine Armbrust ein, die er zuvor zusammengebaut hatte. In einer Ecke seiner Zelle hatte er den Strohsack seines Lagers aufgerichtet. Mit einem leisen Schwirren schoss der Bolzen heraus und schlug in den Strohsack ein. Neugierig begutachtete der Meister die Stelle. Wie erwartet, erfüllte die Armbrust ihren Zweck. Die Sehne musste er noch ein wenig nachspannen. Einen Augenblick später zischte ein zweiter Bolzen durch die Luft. Der Meister war zufrieden mit dem Ergebnis. Als er behutsam die Bolzen aus dem Strohsack zog, sah er den Körper des Burgunders vor sich, den er treffen würde. Oh ja, der Bolzen würde den hohen Herrn sicher nicht auf der Stelle töten. Es wurde Zeit, den nächsten Teil seines Meisterwerkes zu schaffen.
16
„ Was wirst du mir als Erstes zeigen? Zeigst du mir den Messertrick? Werd ich lernen, meinem Gegner die Wa ffe zu entreißen und ihn dann niederzustrecken, mit einem einzigen schnellen Stich?“ Thomas unterstrich seine letzte Frage mit
Weitere Kostenlose Bücher