Die Toten, die niemand vermisst: Ein Fall für Sebastian Bergman (German Edition)
während die Leichen ganz offen danebenliegen?»
«Vielleicht hat er das Loch zuerst gegraben.» Billy richtete sich wieder ein wenig auf. Rachsüchtig. Doch Sebastian sah ihn nur noch müder an als zuvor.
«Und die sechs haben brav danebengestanden und gewartet, bis er fertig war?»
«Nein …»
«Nein! Stimmt genau. Es spielt keine Rolle, in welcher Reihenfolge er es tat. Denn vermutlich wurden sie ganz einfach nicht dort ermordet. Also, wo kamen sie dann her?»
Die Gruppe nickte zustimmend. Eigentlich wussten es alle, aber niemand hatte es ausgesprochen: Hier im Fjäll war zwar der Fundort, aber nicht unbedingt oder sogar sicher nicht der Tatort. Fanden sie den Ort, an dem die Morde begangen worden waren, stiegen die Chancen, auch auf Spuren zu stoßen.
Billy sprang auf. «Ich hole an der Rezeption eine Karte!» Mit eiligen Schritten verließ er den Raum.
Sebastian ging wieder zu seinem Platz und setzte sich. Direkt gegenüber von Ursula. Er lehnte sich zurück und beobachtete sie. Offenbar bemerkte sie es, denn sie hob den Kopf und sah ihn an.
«Was ist denn?», fragte sie.
«Bist du sauer?»
«Nein.»
«Du siehst allerdings so aus.»
«Bin ich aber nicht. Noch nicht.» Sie warf Sebastian einen vielsagenden Blick zu, den er bewusst ignorierte.
«Sauer und müde siehst du aus», fuhr er fort. «Erschöpft.»
«Sebastian …» Torkels Tonfall ließ sich nicht ignorieren. Reiß dich zusammen, bedeutete er. Sebastian drehte sich zu ihm um und hob beschwichtigend die Hände.
«Was denn? Sie sieht ja wohl erschöpft aus. Der erste Tag der Ermittlungen, und sie sieht aus wie ein Unglück. Ich frage mich doch nur, wie es ihr geht.»
«Und warum fragst du das dann nicht einfach?», konterte Ursula. «Wie es mir geht? Anstatt zu sagen, ich würde sauer aussehen?»
«Bitte entschuldige. Wie geht es dir?»
«Gut, danke. Und dir?»
Sebastian konnte nicht mehr antworten, da im selben Moment die Tür aufgerissen wurde und Billy mit einer Wanderkarte über die Umgebung hereinstürmte. Er faltete sie auseinander und breitete sie auf dem Tisch aus. Alle beugten sich darüber. Bis auf Sebastian. Wieder einmal vertraute er darauf, dass die anderen wie immer darüber sprechen würden, was sie taten, während sie es taten.
«Hier wurden die Leichen gefunden», erklärte Billy und zeichnete ein kleines Kreuz auf die Karte, während alle schweigend darauf starrten und nach derselben Sache suchten. Sie jedoch nicht fanden.
«Keine Gebäude. Kein Unterstand. Kein Wald. Nirgendwo in der Nähe ein Ort, der Schutz bietet», fasste Vanja mit enttäuschter Stimme zusammen.
Sie richteten sich wieder auf. Billy nahm die Karte vom Tisch und hängte sie an die Wand.
«Dem Einschusswinkel nach zu urteilen muss es sich um einen ziemlich kontrollierten Mörder handeln», warf Ursula ein. «Effektiv. Ob er wirklich das Risiko eingegangen ist, entdeckt zu werden?»
«Es war Oktober», entgegnete Billy. «Alle Fjäll-Stationen waren geschlossen. Und fast keine Leute unterwegs. Wahrscheinlich hat er die Gefahr in Kauf genommen.»
«Oder er wurde es tatsächlich», sagte Jennifer leise.
Bisher hatte sie die meiste Zeit schweigend dagesessen und zugehört, aber sie machte sich schon eine Weile darüber Gedanken. Eigentlich schon seit dem Abendessen, als Hedvig über die Niederländer berichtet hatte. Aber sie hatte sich nicht getraut, etwas zu sagen. Wenn sie richtiglag, hätte auch jemand anders aus der Gruppe auf dieselbe Idee kommen müssen, dachte sie. Aber bisher hatte niemand ihre Theorie ausgesprochen. Jennifer ging sie schnell noch einmal im Kopf durch. Ganz idiotisch war sie nicht. Sie musste es wagen.
«Ich meine: Oder er wurde tatsächlich entdeckt», fuhr Jennifer fort. Ihre Stimme war jetzt kraftvoller. «Die beiden mit der Kleidung. Die wir vermutlich identifizieren können. Die Holländer. Vielleicht kamen sie zufällig vorbei und wurden Zeugen des Verbrechens.»
Niemand erwiderte etwas, aber Torkel registrierte, dass Ursula und Vanja vor sich hin nickten. Er sah zu Jennifer hinüber. Das war keine schlechte Theorie, ganz und gar nicht. Torkel war zufrieden. Mit ihr, aber auch mit sich selbst. Unabhängig davon, ob sich ihre These in der Realität bestätigen würde oder nicht, so zeigte sie auf jeden Fall, dass Jennifer richtig dachte. Und das wiederum zeigte, dass er richtig entschieden hatte.
«Nehmen wir einmal an, dass es stimmt», brach Torkel das Schweigen, «dann wären die vier anderen also die
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