Die Toten, die niemand vermisst: Ein Fall für Sebastian Bergman (German Edition)
ursprünglichen Opfer, auf die wir uns konzentrieren sollten. Wissen wir mehr über sie?» Er richtete seine Frage an Ursula, die den Kopf schüttelte.
«Zwei Erwachsene, ein Mann und eine Frau. Zwei Kinder, deren Geschlecht nicht zu bestimmen ist. Wenn sie durchschnittlich groß waren, würde ich ihr Alter auf fünf bis acht Jahre schätzen.»
Sebastian rieb sich müde die Augen. Er stand auf, ging um den Tisch herum zu den Fenstern und öffnete eines. Stützte sich auf das Fensterbrett und atmete in tiefen Zügen die kalte, klare Abendluft ein. Wie ging es ihm eigentlich? Nicht so gut, wenn er ehrlich zu sich war. Jedenfalls nicht so gut, wie er erhofft hatte. Er hatte sich so sehr auf das alles hier gefreut.
Mehr als das.
Es gebraucht.
Zeit mit Vanja zu verbringen. Wieder zu arbeiten. Mit ihr. Ihr näherzukommen. Sie kennenzulernen.
Und jetzt wollte sie einfach wegziehen. Ihn verlassen. Seine einzige dünne Rettungsleine zu dem kappen, was an ein halbwegs normales Leben erinnerte.
Obendrein gab es auch noch zwei tote Kinder.
Bisher war das eine richtig beschissene Reise.
«Bei einigen der Opfer konnten wir Schäden an den Rippen feststellen, was darauf hindeuten könnte, dass man ihnen zuerst in die Brust geschossen hat und dann in den Kopf», fuhr Ursula fort. «Und das lässt vermuten, dass der Mörder im Umgang mit Waffen geübt ist. Die größte Trefferfläche zuerst …»
Sebastian schielte zu Jennifer hinüber. Eigentlich war sie ihm mindestens fünfzehn Jahre zu jung, aber sie könnte ihm diesen Aufenthalt sicher trotzdem ein wenig versüßen. Allerdings würde Torkel ihn feuern, sobald er auch nur Anstalten machte, sich ihr zu nähern. Ein Gespräch und eine Einladung zum Bier reichten vermutlich schon, um das Misstrauen des Chefs zu wecken. Und wenn er Torkel richtig kannte, würde der wie ein Lehrer auf Klassenfahrt nachts die Flure bewachen.
«Aber ist es denn eine Familie?», fragte Billy.
«Die Vermutung liegt nahe», antwortete Ursula, «aber wir wissen es noch nicht. Darüber wird erst die DNA-Untersuchung Aufschluss geben.»
Andererseits, was machte es schon, wenn er nach Hause fahren musste? Wenn Vanja bald nicht mehr da war, wofür lohnte es sich dann überhaupt, hierzubleiben? Der Fall war einfach zu deprimierend und bisher auch relativ uninteressant.
«Wir gehen davon aus, dass alle gleichzeitig verscharrt wurden. Hedvig hat das untersucht. Im gesamten Jahr 2003 gab es keine weiteren Vermisstenmeldungen.» Torkel sah von seinen Unterlagen auf. «Und Kinder wurden in dieser Gegend noch nie vermisst gemeldet.»
«Kannst du bitte das Fenster wieder zumachen? Es ist kalt.»
Sebastian wurde aus seinen Gedanken gerissen. Vanja sah ihn auffordernd an. Er nickte, schloss das Fenster und ging wieder an seinen Platz. Vanja war nicht weg. Noch nicht. Sie war hier, im selben Raum. Und würde noch weitere drei Monate hierbleiben. Drei Monate, die er an ihrer Seite sein konnte. Das waren unschätzbare Tage, die er nicht aufs Spiel setzen durfte, indem er eine Frau anbaggerte, die vermutlich ohnehin nie mit ihm ins Bett gehen würde. Also beschloss er, Interesse für das Gespräch am Tisch vorzutäuschen.
«Billy, finde bitte heraus, ob Anzeigen wegen nicht bezahlter Hotelrechnungen vorliegen aus der Zeit, als die Holländer verschwanden», sagte Torkel. «Und überprüfe, ob verlassene Autos gemeldet oder entfernt wurden oder man irgendwelche Zeltausrüstung im Gebirge gefunden hat. Dass die Toten nicht als vermisst gemeldet wurden, könnte ja auch daran liegen, dass man glaubte, sie wären aus freien Stücken verschwunden.»
Billy nickte.
«Ich kann dir helfen, wenn du willst», bot Jennifer an.
«Das wäre toll», antwortete Billy lächelnd. «Vielen Dank.»
Vanja beobachtete die beiden. Beängstigend, wie schnell man ersetzt werden konnte. Gleichzeitig war es natürlich nur richtig. Diese Ermittlung konnte noch Monate andauern und wäre vermutlich ihre letzte. Plötzlich freute sie sich auf die Zeit danach.
Konferenzräume, Kaffee, Whiteboards, Bilder, Theorien.
In diesem Moment hatte sie das Gefühl, damit abgeschlossen zu haben.
Es war an der Zeit, weiterzukommen.
Sich zu entwickeln.
Aber noch spielte hier die Musik.
«Es ist ja auch nicht sicher, dass überhaupt jemand wusste, dass sie hier waren», sagte sie und wartete, bis sie die volle Aufmerksamkeit der anderen hatte. «Ich meine, sie müssen keine Spuren hinterlassen haben. Sie könnten mit dem Zug gekommen sein und im
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