Die Toten, die niemand vermisst: Ein Fall für Sebastian Bergman (German Edition)
ihren gesamten Magen hier entleert. Wollte alles hochwürgen und loswerden.
Aber es kam nichts mehr, sosehr sie es auch versuchte. Also steckte sie sich zwei Finger in den Hals. Wieder und wieder, bis sie sich vollkommen leer fühlte. Ihre Schuhe und ihre Hosenbeine waren besudelt, aber es kümmerte sie nicht, sie fühlte sich nur befreit. Als hätte sie die Kontrolle über ihren Körper wiedererlangt. Ihn von all dem Mist gereinigt, den sie heute hatte schlucken müssen. Es war ein herrliches Gefühl.
So war es ihr schon lange nicht mehr ergangen. Seit einer Ewigkeit nicht mehr. Aber sie verstand, was sie damals daran fasziniert hatte.
Die Kontrolle zu verlieren und wiederzuerlangen.
Der Genuss und die Scham, die damit einherging.
Sie beugte sich vor und starrte auf das Erbrochene auf dem Boden.
Sie war siebzehn gewesen, als es angefangen hatte. Damals war sie in Östermalm auf das Enskilda-Gymnasium gegangen. Sie war intelligent und schnell von Begriff, und sie hatte gern gelernt, Noten hatten ihr also keine Probleme bereitet.
Es war das andere.
Das Soziale.
Alle an dieser Schule kamen ihr reich, schön und perfekt vor. Es gab so viele ungeschriebene Gesetze, so viele Codes, die sie nicht kannte. Sie wollte Freunde haben. Einen Freund. Wollte dazugehören. Aber es gelang ihr nicht. Was sie auch tat, immer war es das Falsche. Sosehr sie sich auch bemühte – sie blieb doch eine Außenseiterin. Also begann sie auf dem Weg nach Hause zu naschen, um sich zu trösten. Süßigkeiten, Kekse, Chips. Immer mehr. Ihre Freunde waren Salz, Zucker und Fett, und sie suchte deren Gesellschaft immer häufiger.
Gleichzeitig fürchtete sie sich auch vor dem Mist, den sie in sich hineinstopfte, und fühlte sich nur umso schlechter zwischen all den gertenschlanken, perfekten Körpern, die sie den ganzen Tag über umgaben. Also erbrach sie das Gegessene hin und wieder, um nicht zuzunehmen. Zunächst fand sie das nicht weiter gefährlich. Es kam ja nicht allzu oft vor, und eigentlich war es eine ziemlich perfekte Kombination. Hinein mit den schönen Sachen und kurz darauf wieder hinaus.
Doch es eskalierte. Irgendwann konnte sie an nichts anderes mehr denken als an Essen – und wie sie es so schnell wie möglich wieder loswurde. Es war das Einzige, was noch für sie wichtig war.
Eines Tages entdeckte sie in Dagens Nyheter einen Artikel über Essstörungen. Er handelte unter anderem von Bulimie. Die übrigen Rubriken hatte sie nur überflogen, doch in diesem Text erkannte sie sich plötzlich wieder. Sie las über die Nebenwirkungen. Dass die Menstruation unregelmäßig werden und sogar ganz ausbleiben konnte. Über die Zahnschäden. Sie war auf die Toilette gerannt und hatte sich im Spiegel betrachtet. Nervös war sie mit ihrer Zunge über ihre Vorderzähne gefahren. Denn dort sollten die Unebenheiten im Zahnschmelz zuerst entstehen. Sie konnte zwar nichts Ungewöhnliches entdecken, wusste andererseits aber auch nicht, wie es sich anfühlen sollte. Ihre Periode hatte sie allerdings schon seit drei Monaten nicht mehr gehabt. Sie schmierte sich einige Brote, las den Artikel noch einmal und begriff, dass darin in der Tat ihre eigenen Verhaltensmuster beschrieben waren. Alles stimmte. Dann erbrach sie sich auf der Toilette und weinte.
Sie war krank.
Sie war nicht nur eine Außenseiterin, sondern auch krank.
Und nur wenige überwanden diese Krankheit ohne fremde Hilfe, hieß es in der Zeitung.
Sie beschloss, sich Valdemar anzuvertrauen, und ging zu seinem Büro. Bis heute wusste sie nicht, woher sie damals die Kraft genommen hatte, denn sie hatte sich so sehr geschämt. Aber sie erzählte es Valdemar. Er nahm sich für den Rest des Tages frei, und sie machten einen Spaziergang. Vanja wäre am liebsten im Erdboden versunken, aber er entlockte ihr alles. Behutsam. Schritt für Schritt.
Wenn es wirklich darauf ankam, hatte er sich stets für sie eingesetzt und war genau der Vater gewesen, den sie sich immer erhofft hatte. Das war großartig.
Zwei Wochen später sorgte er dafür, dass sie die Schule wechseln durfte. Das erste Halbjahr war gerade zu Ende, und zum zweiten konnte sie an der Södra Latin anfangen. Er kümmerte sich um alles: eine zweiwöchige Kur für Mädchen mit Bulimie im Sommer, um sie auf die nächsten Schritte vorzubereiten. Er fahndete nach den besten Therapeuten und suchte einen neuen, wenn sie mit dem alten nicht zurechtkam.
Er heilte sie.
Mit seiner Nähe und seiner Ehrlichkeit.
Dieses Bild konnte sie
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