Die Toten, die niemand vermisst: Ein Fall für Sebastian Bergman (German Edition)
war es gut, dass sie ordentlich Schwedisch gelernt hatte und ihm, Eyer und ihren Freunden helfen konnte. Aber es war nicht nur gut, da hatte Memel recht. Denn sie lernte nicht allein die Sprache. Sie lernte auch andere Dinge. Die Memel und den anderen Männern nicht gefielen. Ganz im Gegenteil.
Sie machten sich Sorgen.
Um ihre eigenen Frauen.
Darum, dass sie bald genauso verwirrt sein könnten.
Mehran mochte Memel. Oft legte der alte Mann den Arm um ihn und erzählte ihm von der alten Heimat und von Hamid. Er nahm ihn mit in die Moschee und zeigte ihm, wie man sich reinigte und auf das Gebet vorbereitete.
Dennoch hatte er sich immer für seine Mutter eingesetzt. Aber jetzt hatte sie sich mit einem Mann vom Fernsehen getroffen. Allein. Einem schwedischen Mann. Nach allem, was ihr Sohn für sie getan hatte.
Die Wut war wieder da. Nicht einmal Avicii konnte sie nun dämpfen. Ein schwedischer Mann! Die Schweden hatten noch nie etwas für sie getan. Im Gegenteil. Sie waren die Schuldigen. Sein Vater war hier verschwunden. Im sicheren Schweden. Nicht im gefährlichen Afghanistan. Nicht auf dem Weg hierher. Sondern hier, wo man ständig dankbar dafür sein sollte, dass man bleiben durfte. Das war eine große Lüge. Schweden war nicht sicher. Jedenfalls nicht für die meisten, die er kannte. Sie lebten in ständiger Unsicherheit. Durften sie bleiben oder nicht? Würden sie eines Tages abgeschoben? Oder, noch schlimmer, würden sie einfach verschwinden, so wie sein Vater? Mehran erinnerte sich, dass ihr Sachbearbeiter von der Einwanderungsbehörde sie ausweisen wollte, obwohl sein Vater verschwunden war. Welche Angst Shibeka damals gehabt hatte, dass sie eines Tages einfach auftauchen und sie zum Flughafen fahren würden.
Es war eine große Lüge gewesen. Er hasste Lügner.
Und jetzt hatte ausgerechnet seine Mutter gelogen.
Mehran holte tief Luft und ließ «Levels» noch einmal laufen. Er hoffte, dass er sich so wieder beruhigen würde. Doch er kam nicht dazu, denn im nächsten Moment tauchte sie im Türspalt auf. Sie sah ihn mit ihren braunen Augen an, die jetzt rot geschwollen vom Weinen waren.
«Bitte verzeih mir, Mehran», sagte sie sanft. «Darf ich reinkommen?»
Mehran antwortete nicht. Er blickte sie nur an, die Musik dröhnte noch immer in seinen Ohren. Sie setzte sich neben ihn auf das Bett. Er ließ es zu, spürte ihre warme Hand auf seinem Bauch. Das beruhigte ihn mehr als die Musik.
«Kannst du denn nicht die Kopfhörer rausnehmen?», bat sie ihn.
Sie sprach Paschtu. Normalerweise liebte er das. Im Alltag wollte sie meistens Schwedisch mit ihnen reden. Ihretwegen. Das war eine ihrer Regeln. Aber heute sprach sie Paschtu. Er wusste, warum. Sie tat es immer dann, wenn sie alles verstehen sollten, was sie sagte. Ihre Stimme klang mehr nach ihr selbst, wenn sie Paschtu sprach. Echter. Mehr wie Mama. Widerwillig nahm er die Hörer aus den Ohren, aber der Zorn war noch da.
«Ich verstehe ja, dass du wütend bist», sagte sie leise. «Aber du sollst wissen, dass ich dich nicht verletzen wollte. Ich wusste nur nicht, wie ich es dir erzählen sollte.»
Er sah sie an. Klang aufgebracht, als er den Mund öffnete. «Warum können wir nicht immer Paschtu sprechen?»
Sie sah verwundert aus, mit dieser Frage hatte sie nicht gerechnet.
«Ich finde es eigentlich gut, wenn wir Schwedisch sprechen. Wir wohnen in Schweden.»
«Aber wir sind keine Schweden. Auch wenn du das anscheinend glaubst.»
Shibeka nahm seine Hand. «Mehran, sei doch nicht böse. Ich glaube, der Mann kann uns helfen.»
«Und wie?»
«Ich weiß es nicht genau. Aber ich muss erfahren, was passiert ist. Wir müssen es erfahren.»
«Papa ist weg, Mama. Weg! Verstehst du das denn nicht?» Die letzten Worte schrie er beinahe.
Shibeka nahm seine Hand und drückte sie.
Doch obwohl er ihre zarten Finger auf seinen spürte, fuhr er fort: «Und du machst es nicht besser, indem du es nicht akzeptierst! Du wirst langsam verwirrt. Und ich auch.»
«Aber ich kann nicht. Ich kannte deinen Vater so gut. Und ich erkenne ihn in dir. Jeden Tag werde ich an ihn erinnert. Verstehst du das nicht? Ich kann ihn unmöglich einfach aufgeben. Das wäre so, als würde man mich bitten, nicht mehr zu atmen. Mich bitten, nicht mehr zu lieben.»
Plötzlich begann sie zu weinen. Das hatte Mehran lange nicht mehr erlebt. Anfangs, als Hamid gerade verschwunden war, hatte sie die ganze Zeit geweint, aber eines Tages hatte sie einfach aufgehört. Als wären ihre Tränen
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