Die toten Frauen von Juárez
nicht, wer ich war oder woher ich kam, aber ihnen war klar, dass ich keiner von ihnen bin. Dort sind Polizisten. Die werden Ihnen Fragen stellen.«
»Dann beantworte ich sie.«
»Sie müssten lügen.«
Enrique blieb standhaft. »Kein Problem.«
»Als ob ich Sie aufhalten könnte«, sagte Sevilla. Er lehnte sich auf demStuhl zurück und trank Kaffee. Bei jedem Schluck brannten seine aufgeplatzten Lippen erneut. Er versuchte gar nicht, sie zu schonen.
»Ich bin im Handumdrehen wieder da«, sagte Enrique. Er stand vom Tisch auf. Sevilla sah ihm nicht nach.
ZWÖLF
Den größten Teil seines Lebens hatte Sevilla nicht ernsthaft über die Unausweichlichkeit des Alterns nachgedacht. Mit zwanzig war es ihm unmöglich erschienen, selbst einmal alt zu werden. Ganz bestimmt wäre er da längst tot, hatte er gedacht, aber der Tod selbst war eine Abstraktion, über die man nicht weiter nachdenken musste. Mit dreißig erging es ihm nicht viel anders, bis er auf die vierzig zuging und seine alten Helden zunehmend schneller wegstarben.
Stets blieb der Tod sein ständiger Begleiter, besonders seitdem er die
narcotraficantes
bekämpfte. In den 1980er Jahren waren die
narcos
plötzlich daraufgekommen, dass Töten ein mächtiges Werkzeug war, wenn auch nicht so mächtig, dass man es in allen Fällen einsetzen, man jedes Problem damit lösen konnte. Hatte es bis dahin nur Marihuanatüten oder Säcke mit abgepacktem Kokain und Heroin gegeben, hatte man es plötzlich mit Bergen von Patronenhülsen, mit Blut und Leichen zu tun. Autobomben waren zu Sevillas großer Dankbarkeit selten, denn die Blutbäder, die sie anrichteten, hätte er kaum ertragen können.
Jenseits der vierzig musste er sich jedes Mal, wenn er in den Spiegel blickte und hängendes Fleisch und schwindende Muskeln sah, mit dem Tod auseinandersetzen. Selbst seine Haut veränderte sich. Mit den Falten hatte er gerechnet, aber nicht mit der seltsam rauen und losen Beschaffenheit seiner Haut. Es hatte auf den Handrücken begonnen und sich kontinuierlich ausgebreitet.
Jetzt war er alt, ohne jede Frage. Alles, was er hatte erwarten dürfen, war eingetroffen, vom schütteren Haar bis zu dem Bart, in dem sich mittlerweile mehr Weiß als alles andere zeigte. Seine Sehschärfe ließ nach, aber noch weigerte er sich, eine Brille zu tragen. Wenn er nicht trank, zitterten seine Hände nicht, aber das war nur ein kleiner Anlass zur Freude in einem Meer anderer Nachteile. Er konnte sich nicht erinnern, wann er zum letzten Mal eine Erektion gehabt hatte.
Als Enrique fort war, schlurfte er in Pantoffeln und Morgenmanteldurch das Haus, machte ein Nickerchen auf der Couch und zappte lustlos durch die Fernsehkanäle. Ihm fehlte die Energie und der Wille, etwas zu lesen, obwohl er zahlreiche Bücher auf dem Nachttisch neben dem Bett liegen hatte. Er mied das Zimmer seiner Tochter, wohl wissend, dass er es irgendwann doch betreten müsste, und sei es nur, um die Fotografie wieder aufzustellen.
Am Abend, nach einer stillen Mahlzeit, trat er endlich ein. Er klopfte leise, wie um sich anzukündigen, und schlüpfte hinein. Er sah die Delle in der Bettdecke, wo er immer saß.
Er stellte das Foto auf den Nachttisch und setzte sich. Im schräg einfallenden Licht der Nachttischlampe sah er, dass es doch zerknittert war, und das Herz wurde ihm schwer. Er wollte das Bild bügeln, glätten wie ein Stück Stoff, doch das Unglück war geschehen. Die Knicke ließen sich nicht mehr rückgängig machen, so wenig wie die Falten in seinem Gesicht.
Den ganzen Tag spürte er eine Last auf den Schultern, die er für Traurigkeit gehalten hatte. Als er allein im Zimmer seiner Tochter neben der Wiege seiner Enkeltochter saß, begriff er, dass es sich um Wut handelte. Ihm schien, als wäre er nicht mehr er selbst, und zwar in einem Maße, dass nicht einmal die Madrigals ihn mehr als Polizisten identifizieren konnten, sondern ihn für einen Kleinganoven hielten, einen Hochstapler. Sie spürten keinen Biss mehr bei ihm. Er schämte sich.
»Tut mir leid, dass ich euch nicht nach Hause holen konnte«, sagte er in das leere Zimmer. »Vielleicht habe ich mir nicht genug Mühe gegeben. Aber nicht, weil ihr mir nichts bedeutet hättet. Ihr wisst, ich hätte mein Leben gegeben, damit ihr wieder nach Hause kommt.«
Sevilla rang die Hände. Die Knöchel der einen sahen geschwollen und aufgeschürft aus.
»Ihr müsst wissen: Was ich jetzt mache, geschieht nicht, weil ich aufgegeben habe. Was die anderen auch denken,
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