Die toten Frauen von Juárez
Türkis, ein Weihnachtsgeschenk von Paloma.
Es war fast Mittag, als Sevilla an Kellys Tür klopfte. Kelly hatte ihn schon gesehen, als er draußen am schmiedeeisernen Geländer lehnte, das Jackett in der drückenden Hitze offen und eine Automatik im Halfter an der Seite. Kelly öffnete, Sevilla trat ohne weitere Aufforderung ein.
Sein voller Name lautete Rafael Sevilla, er ging, soweit Kelly das abschätzen konnte, auf die sechzig zu, wenn er sie nicht schon überschritten hatte. Einst hatte er schwarzes Haar gehabt, doch inzwischen war es fast vollkommen weiß; nur die Borsten seines dünnen Bärtchens leisteten noch Widerstand. Wie so viele mexikanische Männer war er klein, was er freilich durch aufrechte Haltung und Präsenz kompensierte.
»Guten Morgen, Kelly«, sagte Sevilla auf Englisch. Er sprach immer Englisch mit Kelly, wenn auch mit ausgeprägtem Akzent.
»Señor Sevilla.«
Sevilla begutachtete die Kochnische, die leeren Töpfe und Schüsseln. Er hatte eine große Nase, dunkle Augen, ein markantes, melancholischesGesicht. Zu seinen Standardwitzen gehörte, dass sich unter seinen Vorfahren ein Hund befand. Kelly blieb an der offenen Tür stehen. Er sah hinaus. Sevilla war allein.
»Ich habe gehört, Sie sind gestern Nacht mit Estéban durch die Clubs gezogen«, sagte Sevilla. »Die ganze Nacht, Club für Club. Wissen Sie, ich frage mich, was Sie beide im Schilde führen, wenn Sie das machen.«
Schließlich schloss Kelly die Tür. Sevilla schlenderte zu Kellys Couch und setzte sich. Er hatte den Bauch eines alten Mannes, war aber nicht dick. Und er setzte sich stets so hin, dass er an die Waffe herankam, die er nie unter oder neben sich einklemmte.
»Verkauft ihr zwei wieder Drogen an die Amerikaner?«, fragte Sevilla.
»Das wäre doch wohl eine Angelegenheit für die städtische Polizei«, entgegnete Kelly. Er ging in die Kochnische und spülte das Geschirr. Es fiel ihm leichter, mit fester Stimme zu sprechen, wenn er die Hände unter warmem Seifenwasser beschäftigte. »Und nicht der Bundespolizei.«
»Wir stehen alle auf derselben Seite«, sagte Sevilla. »Außerdem wissen Sie, welche Bedeutung Drogen heutzutage haben. Wussten Sie, dass man letzte Woche sechs geköpfte Leichen außerhalb der Stadtgrenze gefunden hat? Wer weiß, wo die Köpfe sind.«
»Estéban schneidet keinem die Köpfe ab.«
»Vielleicht sehe ich die größeren Zusammenhänge. Vielleicht möchte ich wissen, woher Estéban die Ware bekommt.«
Kelly grinste und trocknete seinen Topf ab. »Niemand schert sich um ein bisschen Gras.«
»Marihuana? Nein, wirklich nicht. Wer hat nicht schon ein wenig
hierba
geraucht? Aber heute denken alle nur noch an Drogen. Bundespolizisten schwärmen in der Stadt herum wie die Fliegen.«
»Na und?«, fragte Kelly.
»Chinaloa«,
sagte Sevilla und sah Kelly über die Schulter mit seinen dunklen Augen an. Kelly konnte die Farbe nicht einschätzen; vielleicht braun, vielleicht grün. Er sah nicht gern länger hinein, da ihr stechender Blick ihn nervöser machte als das Rätsel ihrer Farbe. Stattdessen betrachtete Kelly seine Hände.
»Damit habe ich nichts zu tun.«
»Niemals?«
»Niemals. Aber das sollten Sie inzwischen wissen.«
»Aber Estéban dealt damit«, sagte Sevilla.
»Das wissen Sie auch. Verdammt«, sagte Kelly und schlug in der Spüle zwei Teller gegeneinander, »haben Sie es nicht langsam satt, hierherzukommen? Ich habe nichts für Sie. Okay? Nichts.«
Sevilla gestikulierte, als würde er einen unsichtbaren Ball hin- und herwerfen. Er lächelte verhalten, dann wandte er sich ab. »Vielleicht unterhalte ich mich einfach gern mit Ihnen, Kelly. Niemand möchte Englisch mit mir sprechen.«
»Reden Sie mit den
turistas
«, sagte Kelly.
»Sogar
turistas
hassen Polizisten. Die glauben, dass wir alle bestechlich sind oder ihnen den Spaß verderben wollen. Warum denken die das, Kelly?«
Kelly zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Vielleicht können die Sie ja persönlich nicht leiden.«
»Das ist grausam.«
Sie verstummten. Kelly trocknete das Geschirr ab und stellte es weg. Er sah Sevilla nicht an, spürte den stechenden Blick des Mannes aber regelrecht im Rücken.
»Wie geht es Paloma?«, fragte Sevilla schließlich.
»Der geht es gut.«
»Habe ich Ihnen schon gesagt, dass ich ihr großen Respekt entgegenbringe?«, fragte Sevilla. »Sie leistet gute Arbeit mit ihrer Gruppe. Viele Familien erleben Tragödien. Manche davon würden Sie überraschen.«
»Jede
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