Die toten Frauen von Juárez
würde ich Ihnen glauben, Kelly«, sagte Sevilla. »Aber sie ist nicht da. Wo ist sie hin?«
»Ich weiß nicht.«
»Was hat Estéban Ihnen gesagt?«
»Nichts. Er sagte … er sagte, dass sie nach mir sehen wollte und, verdammt, ich weiß es nicht.« Kellys Augen brannten, er rieb sie. Vor Sevilla wollte er nicht weinen. Das wäre zu viel.
»Wer verkauft Estéban sein Heroin?«
»Oh, Herrgott noch mal!«, brüllte Kelly. »Seine Schwester ist
verschwunden,
klar? Sie ist einfach … einfach fort, und mir ist
scheißegal,
wer Estéban was gibt und warum! Und jetzt machen Sie, dass Sie hier rauskommen!«
Sevilla bewegte sich nicht, doch seine Miene wurde hart. Er trug einen Anzug, der nicht gebügelt war und alt aussah. Sevilla nahm das Taschentuch aus der Brusttasche und hielt es Kelly hin. »Wollen Sie sich Ihre Rotznase abwischen?«
»Was reden Sie denn da?«, gab Kelly zurück, strich sich aber unbewusst mit dem Handrücken über die Nase.
»Ich meine, wenn Sie sich wie ein verzogener kleiner Junge verhalten möchten …«
»Ich bin kein …«, begann Kelly.
Sevilla ließ ihn nicht ausreden. »
Parate!
Ich rede, Sie hören zu. Und hören Sie gut zu, Kelly, weil ich bei Ihnen nicht die Beherrschung verlieren möchte. Sie möchten sicher nicht, dass ich die Beherrschung verliere.«
Kelly machte den Mund zu. Sevilla stand auf und ging durch das Zimmer: eine langsame Umkreisung, bei der er nie lange stehen blieb, aber trotzdem nichts übersah. Bei der Schiebetür blieb er kurz stehen und betrachtete den dicken, angetrockneten Butterfleck. Als er Kelly wieder ansah, waren seine Augen dunkel und nicht mehr traurig.
»Sie wird seit zehn Tagen vermisst«, sagte Sevilla. »Das weiß ich, weil ich mich umgehört habe. Sie waren ebenfalls fort – an der verdammten Nadel –, aber auch Estéban konnten wir nicht ausfindig machen. Hat er Ihnen das gesagt? Hat er Ihnen gesagt, dass er nicht in der Stadt gewesen ist?«
»Nein.«
»Dachte ich mir.«
Kelly wartete darauf, dass Sevilla mehr sagen würde, doch Sevilla sah nur zu der
maquiladora
jenseits von Kellys Balkon. Er schwieg so lange, bis Kelly nicht mehr stumm bleiben konnte. »Wo war er?«
»Irgendwo«, sagte Sevilla. Er wandte der Aussicht den Rücken zu und fischte eine Packung Zigaretten aus der Innentasche. »Ich könnte eine Vermutung äußern, aber genau weiß ich es nicht. Was daran liegt, dass ich keine
Namen
kenne. Namen von Leuten, die Estéban das Heroin liefern.«
»Verdammt, ich habe Ihnen schon gesagt, dass ich das nicht weiß.«
Sevilla klopfte eine Zigarette aus der Packung, klemmte sie in den Mundwinkel und zündete sie an. Er nahm einen tiefen Zug und stieß den Rauch durch die Nase wieder aus. Er rückte von der Glastür ab und kam auf Kelly zu. Die Zigarette hielt er wie einen Zeigestock. »Dann will ich Ihnen sagen, was passiert ist. Estéban und seine guten Freunde, die Sie nicht kennen, sind vielleicht doch keine so guten Freunde. Vielleicht verdient Estéban zu viel Geld, vielleicht auch nicht genug. Jemand wird wütend, oder Estéban wird wütend, das läuft auf dasselbe hinaus: Paloma macht einen Ausflug und kommt nicht zurück, bis alle wieder Freunde sind.«
Kelly schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er.
»Nicht? Vielleicht kommt sie gar nicht zurück. Vielleicht ist sie längst tot.«
»Nein, das kann nicht sein.«
»Ich weiß nicht, was passiert ist, Kelly«, sagte Sevilla. Er kam noch näher und hinterließ verblassende Rauchkringel in der Luft. »Ich weiß es nicht, weil ich keine
Namen
kenne. Namen könnte ich Gesichter und Orte und Zeiten zuordnen.
Dann
wüsste ich es genau.«
Kelly fühlte sich heiß und atemlos und stützte sich mit den Händen auf der Arbeitsplatte der Anrichte ab. Die Scherbe eines zerbrochenen Tellers drückte sich in seine Handfläche. »Sie ist nicht tot. Sie ist nicht von einem Dealer entführt worden.«
»Wissen Sie das mit Sicherheit, Kelly?«
»Ich weiß es.«
Sevilla war so nahe, dass er Kelly berühren konnte. Der Zigarettenrauch hüllte Kelly regelrecht ein, genau wie der Duft von Rasierwasser.Kelly wollte Sevilla wegschubsen, befürchtete aber, er könnte hinfallen; ihm war schwindelig, was durch den Qualm nicht gerade besser wurde. »Sie wissen es
nicht,
Kelly. Sie können es nicht wissen. Aber wir … wenn Sie mir helfen.«
»Ich weiß nicht, was ich für Sie tun kann«, sagte Kelly. Er schloss die Augen. Ihm war übel.
»Helfen Sie mir, herauszufinden, wer Estéban beliefert.
Weitere Kostenlose Bücher