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Die toten Frauen von Juárez

Die toten Frauen von Juárez

Titel: Die toten Frauen von Juárez Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sam Hawken
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wenige; nachts blieben die Straßen vollkommen dunkel, abgesehen vom Licht des Mondes und der Sterne. Das Verbrechen grassierte hier schlimmer als irgendwo sonst in Juárez, was schon eine Menge über diesen Ort aussagte. Kelly spürte ununterbrochen Blicke auf sich.
    Er begegnete Kindern, die Wasser von einer öffentlichen Pumpe in Plastikflaschen nach Hause trugen. Sie strömten um ihn herum und gingen, ohne sich umzusehen, weiter. Ihre Stimmen und ihr Gelächter hörten sich wie Vogelgezwitscher an. Er ging einen steilen Abhang mit breiten Stufen hinunter und verlor um ein Haar den Halt. Von seiner Position aus erblickte er die gesamte
colonia,
die sich den Berg hinab ausbreitete, und jenseits der äußersten Grenze ein Feld mit rosa Kreuzen.
    Ella Arellanos Haus hatte ein eigenes rosa Kreuz, darunter stand in Blockbuchstaben derselben Farbe:
JUSTICIA.
Am Fenster der Vorderseite war ein passend zurechtgeschnittenes, rechteckiges Stück Fliegengitter festgetackert, um Insekten abzuhalten. Auch gab es altmodische Holzfensterlädenmit Metallscharnieren an der Innenseite. Die Eingangstür hing schief in den Angeln, doch die Fassade der Hütte war geweißelt und weitgehend sauber, die gestampfte Erde davor gefegt. Einige der Häuser in der
colonia
sahen fast aus wie Müllhalden; die Arellanos dagegen lebten mit ein wenig Würde.
    Er klopfte und wartete, doch es antwortete niemand. Kelly folgte mit seinem Blick dem gewundenen Pfad und rechnete fest damit, dass jemand herumlungerte und ihn beobachtete, doch er war allein. Er klopfte wieder. Diesmal hörte er Geräusche hinter der Tür.
    Ella öffnete die Tür gerade weit genug, dass Kelly sie im Schatten erkennen konnte. »Was wollen Sie?«, fragte sie auf Spanisch.
    »Mich nach Paloma erkundigen«, antwortete Kelly. »Wann haben Sie sie zuletzt gesehen?«
    »Ich weiß nichts davon«, sagte Ella, diesmal in gebrochenem Englisch. Aus ihrem Mund hörten sich die Worte merkwürdig an; vielleicht lag es aber auch nur an ihrer Stimme; sie nuschelte ein wenig. »Gehen Sie weg.«
    Sie wollte die Tür schließen. Kelly legte eine Hand darauf. »Warten Sie«, sagte er. »Wissen Sie, dass sie vermisst wird? Sagen Sie mir nur, wann Sie sie zuletzt gesehen haben. Wohin ist sie gegangen? Hat sie mit jemandem geredet?«
    Ella drückte gegen die Tür, doch Kelly war stärker. »
No sé cualquier cosa.
Gehen Sie weg!«
    »Nur fünf Minuten! Ich muss es wissen!«
    »Ich sagte,
gehen Sie weg

    Ella warf sich auf der anderen Seite mit ihrem gesamten Gewicht gegen die Tür. Kelly drückte mit beiden Händen dagegen. Gewaltsam verschaffte er sich Zutritt zu einem halbdunklen Raum mit einem Boden aus gestampfter Erde. Der Platz reichte gerade für einen kleinen Tisch, einen winzigen Holzofen und ein paar Decken zum Schlafen. Die Hütte besaß noch ein Hinterzimmer; zwischen dem vorderen und dem hinteren Raum hing ein halb zugezogener Vorhang. Vermutlich lebten fünf oder sechs Leute hier, Männer, Frauen und Kinder.
    Ella wich zurück. Sie sah Kelly nicht an. »Gehen Sie hinaus!
Hinaus!
«
    »Wenn Sie mit mir geredet haben«, sagte Kelly. Wegen der Dachschräge musste er sich bücken. Ella sah verwahrlost aus, ihr Haar ungewaschen. Es hing ihr ins Gesicht. Bei Mujeres Sin Voces hatte sie stets einen gepflegten Eindruck gemacht. Hier war sie jemand anderes.
    »Ich habe sie nicht gesehen. Ich weiß nichts.«
    »Sie lügen mich an«, sagte Kelly.
    Sie versuchte, ins Hinterzimmer zu verschwinden. Kelly packte sie am Arm. Ella ließ nicht locker, bis sie beide auf der anderen Seite des Vorhangs standen, wo ein Metallbett und ein paar bescheidene Möbelstücke die Privatsphäre von Hausherr und Hausherrin bildeten. Eine Gipsstatue der Jungfrau von Guadalupe stand in einer Ecke. Rechts und links von ihr brannten Votivkerzen in roten Gläsern.
    »Lassen Sie mich los!«
    Kellys Herz schlug inzwischen heftig, er keuchte. Ohne nachzudenken, packte er Ella und schüttelte sie so heftig, dass ihr Kopf vor- und zurückgeschleudert wurde. Er sah das dunkelblaue und lilafarbene Veilchen um ihr Auge, dann die aufgeplatzte Lippe. Als er Ella losließ, fiel sie auf das Bett.
    »Was zum Teufel ist hier passiert?«, fragte Kelly.
    Ella bedeckte das Auge. »Warum lassen Sie mich nicht in Ruhe? Gehen Sie über die Grenze zurück.«
    Er wollte sie wieder berühren, diesmal sanfter, doch seine Füße gehorchten ihm nicht. In dem engen Raum schien die Luft knapp zu sein. Kellys Hände griffen ins Leere. »Was ist

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